Das Nachhaltige und das Nötige

von Ernst Peter Fischer

Ernst Peter Fischer
Das Nachhaltige und das Nötige
 
Seit den Tagen von Virchow hat sich die Menge an Energie, die einem Erdenbürger für sein Leben zur Verfügung gestellt wird, viele Hundert Mal erhöht, und da es sich dabei meist um den Einsatz von Kohle und Öl gehandelt hat, gerät dabei viel CO, in die Atmosphäre, was den Klimawandel antreibt. Eine Frage, die sich manchen Menschen unmittelbar stellt, lautet, ob diese Zunahme an Kohlendioxid bedeutet, daß der Welt der Sauerstoff ausgeht. Der französische Präsident Emmanuel Macron macht sich deswegen Sorgen, Weshalb er in einem Tweet geschrieben hat: «Der Amazonas-Regenwald brennt und damit die Lunge, die 20 Prozent des Sauerstoffs unseres Planeten liefert.»
     An dem Satz ist zum einen erstaunlich, wie wenig der Präsident über Lungen weiß, die alles Mögliche machen, nur keinen Sauerstoff produzieren. An dem Satz ist darüber hinaus erstaunlich, daß er völliger Unsinn ist und offenbar niemand dem Präsidenten gesagt hat, daß selbst dann, wenn alles pflanzliche Leben auf dem Planeten verbrennt, dabei weniger als ein Prozent des Sauerstoffs in der Erdatmosphäre verbraucht wird.
     An Sauerstoffmangel wird die moderne Zivilisation nicht zugrunde gehen. Woran aber dann? Auf welchen Säulen ruht das gesellschaftliche Leben der Gegenwart, auf die niemand verzichten kann? Wer sich ohne wissenschaftlich-technische Scheuklappen mit politischer Aufmerksamkeit und unter wirtschaftlichen Aspekten mit sozialen Komponenten um eine Antwort bemüht, kann vier Säulen des Gebäudes ausmachen, ohne das die Zivilgesellschaft unserer Tage kein Dach über dem Kopf hätte und verloren sein würde. Gemeint sind Zement, Stahl, Plastik und Ammoniak, und wer sich über dieses Quartett verwundert die Augen reibt, sollte sich klarmachen, daß er oder sie mit dieser Reaktion anzeigt, von den Abläufen des Lebens in einer modernen Gesellschaft mit ihren zivilen Einrichtungen nur wenig zu wissen.
     In aller Kürze: Mit dem Ammoniak (NH3) wird der Luftstickstoff fixiert und in der Landwirtschaft einsetzbar und kann die Ernährung der Menschen sichergestellt werden. Was das Plastik angeht, so fängt ein heutiges Leben im Kreißsaal mit diesem Stoff nicht nur an, es endet auf einer Intensivstation auch oft mit dem durchsichtigen Material, das in den aktuellen Medien vor allem mit der Nachsilbe «-müll» Aufmerksamkeit findet. Und während Menschen leben, sind sie etwa in ihren Automobilen unentwegt von Stahl umgeben, womit Eisenlegierungen gemeint sind, und seit 2007 lebt der größte Teil der Erdbevölkerung in Städten, die aus Zement und Beton gebaut sind. Seit China den großen Marsch in die Hungernot aufgegeben hat und sich an der westlichen Lebensqualität orientiert, also seit den 1990er Jahren, hat das Reich der Mitte seine Stahlproduktion um das Fünfzehnfache erhöht, die Zementherstellung um den Faktor 10 gesteigert, die Menge von produziertem Ammoniak verdoppelt und die Synthese von Plastikprodukten um das Dreißigfache angehoben. Um diese weiter wachsenden Mengen des unentbehrlichen Quartetts der Zivilisation - also Stahl, Plastik, Ammoniak und Zement - herzustellen, muß die Weltgemeinschaft weiter fossile Brennstoffe einsetzen. Die Zukunft hängt davon ab. Und weder eine App noch die künstliche Intelligenz können daran etwas ändern.
 
aus: „Warum funkeln die Sterne?“
Die Wunder der Welt wissenschaftlich erklärt
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Veröffentlichung in den Musenblättern mit freundlicher Erlaubnis des Autors.