Menschenrechte und -pflichten

von Ernst Peter Fischer

Ernst Peter Fischer
Menschenrechte und -pflichten
 
Das Recht auf Züchtigung, das es im 19. Jahrhundert noch gab, wurde im Grundgesetz durch das Recht auf Leben ersetzt. «Die Würde des Menschen ist unantastbar», so beginnt die gültige Verfassung. Jeden, der sich etwa an die Foltermethoden der Kirche in den Zeiten der Inquisition und die von christlich eingestellten Menschen betriebenen grauenhaften Hexenverfolgungen erinnert, führt das zu der Frage, wie die Menschenrechte entstanden sind und aus welchen Quellen sich die dazugehörigen Überzeugungen speisen. Menschenrechte und Menschenwürde gehören zum heutigen Leben in Frieden und Gerechtigkeit, aber wie sind sie entstanden?
     Eine traditionelle Antwort in akademischen Kreisen lautet, daß der Gedanke an Menschenrechte aus dem jüdisch-christlichen Erbe stammt. Ein alternativer Vorschlag hält dieser Ansicht das philosophische Ideengut der Aufklärung entgegen, das sich keineswegs religiös entfaltet hat. Tatsächlich öffnet sich mit der Frage nach der Genealogie der Menschenrechte ein weites Forschungsfeld für Soziologen, Historiker, Theologen und Vertreter weiterer Disziplinen, die erklären müssen, wie es - zumindest in einigen Teilen der Welt - zur Abschaffung der Folter gekommen ist, die einstmals bei Verhören eingesetzt wurde, um Geständnisse aus einem Gequälten herauszupressen. Der Vorschlag, den der Soziologe Hans Joas dazu gemacht hat, läuft unter dem Schlagwort «Sakralität der Person». Damit ist eine geistesgeschichtliche Entwicklung gemeint, die dem einzelnen Menschen nach und nach das Attribut sakrosankt zusprach, ihn als heilig ansah. Mit diesem Wort ist keine Heiligsprechung gemeint, wie sie die Kirche vornehmen kann. Als heilig wird etwas bezeichnet, das unverfügbar ist und unangetastet bleiben soll. Viele Ethiker sind zum Beispiel der Meinung, man müsse die Kategorie des Heiligen einführen, um wissenschaftlichen Experimenten an Menschen eine moralische Grenze zu setzen - etwa bei Eingriffen in das Gehirn oder bei Veränderungen des Erbguts. Wer die Menschenrechte auf die zunehmende Sakralisierung zurückführen will, muß die Frage beantworten, wann Personen im Laufe der Geschichte zu heiligen Objekten geworden sind.
     Historische Analysen zeigen, daß das Christentum keine rühmliche Rolle spielt und seine Theologen lange gebraucht haben, bevor sie Menschenrechte in ihre Schriften aufgenommen haben. Eigentlich war es erst der (polnische) Papst Johannes Paul II., der im späten 20.Jahrhundert den Menschenrechten Gewicht einräumte, auch wenn er dies nicht konsequent dem Klerus nahebringen konnte - wo es immer noch Vertreter gibt, die Frauen, Kinder und Sklaven nicht zu denen zählen, denen man Menschenrechte einzuräumen hat. Ungläubige können sich nur wundern, wie schwer es in Kirchenkreisen ist, die Nächstenliebe zu finden, die zur christlichen Botschaft gehört.
     Die areligiös eingestellten Philosophen der Aufklärung dachten wesentlich humaner und menschenfreundlicher. Einer von ihnen mit dem Namen Samuel Pufendorf hat bereits im 17. Jahrhundert ausdrücklich auf eine Würde des Menschen («dignatio») verwiesen und sie als Teil seiner Natur betrachtet: «Der Mensch ist von höchster Würde, weil er eine Seele hat, die ausgezeichnet ist durch das Licht der Vernunft.» Zu den berühmten Aufklärern gehört Immanuel Kant, der in seinem politischen Denken die Idee eines Rechtsstaats entwickelte, dessen Bürger das große Menschenrecht der Freiheit haben, aus dem sich seiner Ansicht nach alle anderen Rechte wie Gleichheit und Selbständigkeit ableiten lassen. Zu Kants Lebzeiten, im Anschluß an die Französische Revolution von 1789, verabschiedete die Nationalversammlung in Paris eine erste Erklärung der Menschenrechte, der im 20. Jahrhundert die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte durch die Vereinten Nationen folgte. Sie wurde von Personen formuliert, die noch unter dem Eindruck der Grausamkeiten des Zweiten Weltkriegs standen.
     Was sind nach diesen Vorgaben die weitgehend akzeptierten (wenn auch immer wieder anzumahnenden) Menschenrechte? Die Erklärung beginnt mit der Feststellung des Artikels 1: «Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren», und alle Menschen meint Frauen und Kinder ebenso wie Ungläubige. Artikel 2 verbietet Diskriminierungen «etwa aufgrund rassistischer Zuschreibungen», Artikel 3 verbürgt das Recht auf Leben und Freiheit. Insgesamt kann man der Reihe nach in 30 Artikeln lesen, was Menschen zusteht - zum Beispiel die Gleichheit vor dem Gesetz, das Recht auf Asyl, auf Eigentum, auf Meinungsfreiheit, auf ein Wahlrecht, auf gleichen Lohn und das Recht auf Bildung, um ein paar Beispiele anzuführen.
     Menschen, die Anspruch auf Rechte erheben, sollten im Gegenzug auch Pflichten zu übernehmen haben. Tatsächlich äußert sich die Erklärung der Allgemeinen Menschenrechte von 1948 zu diesem eher unbeliebten Thema, indem sie in Artikel 29 feststellt: «Jeder Mensch hat seine Pflichten gegenüber der Gemeinschaft, in der allein die freie und volle Entfaltung der eigenen Persönlichkeit möglich ist.» Fünfzig Jahre nach der erläuterten UN-Resolution der Menschenrechte hat sich auf Initiative einiger Staatsmänner wie Helmut Schmidt, Valéry Giscard d'Estaing und Schimon Peres ein Inter Action Council die Aufgabe gestellt, eine «Allgemeine Erklärung der Menschenpflichten» vorzulegen. Sie versucht in 19 Artikeln, Richtlinien aufzustellen, mit deren Hilfe «ein Leben in Wahrhaftigkeit und Toleranz» möglich wird. Der «Gleichwertigkeit von Mann und Frau» wird ebenso ein hoher Stellenwert beigemessen wie der «Ehrfurcht vor dem Leben». Das klingt alles sehr vernünftig, wie auch die festgeschriebene Einstellung, daß jeder Einzelne «seinem Gewissen unterworfen» bleibt. Man kann die Liste der Pflichten leicht verlängern - die Pflicht, sich zu integrieren, hilfsbereit zu sein und nachhaltig mit Ressourcen und Lebensmitteln umzugehen, um Beispiele zu nennen, denen man nur beipflichten kann. Bei aller Sorge um die Zukunft des Menschen mit seinen Rechten und Pflichten und bei allem Respekt vor der Initiative - ein paar der in guter Absicht gemachten Festlegungen lenken das Leben der Menschen nach Ansicht des Autors in eine falsche Richtung voller Bequemlichkeit. Ist Bildung wirklich ein Recht? Ist auch die Gesundheit tatsächlich ein Recht, wie die WHO meint und wie es auch das World Health Forum gerne populistisch plakatiert?
     Hier wird die Meinung vertreten, daß es ein Recht von Menschen auf Bildungseinrichtungen und Hospitälern gibt, in denen ihnen Lernhilfen und medizinische Versorgung geboten werden können. Aber lernen und sich bilden und gesund und fit bleiben, das müssen Menschen schon selber, und sie müssen lernen, es zu wollen, wie sie auch lernen können, ihr Leben anzunehmen. Es gibt aus guten Gründen kein Schulrecht, wohl aber eine Schulpflicht, und den Menschen in europäischen Breiten konnte nichts Besseres passieren. «Pflicht! Du erhabener großer Name», so schwärmt der preußische Aufklärer Kant in seiner Kritik der praktischen Vernunft, und wer über die geeigneten (geistigen und körperlichen) Voraussetzungen verfügt, sollte sich verpflichtet fühlen, davon Gebrauch zu machen. Im 19. Jahrhundert hat sich der Arzt Rudolf Virchow politisch engagiert, um den Menschen ein besseres Leben zu ermöglichen. Der Weg dazu führt seiner Ansicht nach über «die Freiheit und deren Töchter Bildung und Wohlstand». Die Gesundheit kommt dann von selbst.
 
aus: „Warum funkeln die Sterne?“
Die Wunder der Welt wissenschaftlich erklärt
© 2023 C.H. Beck
Veröffentlichung in den Musenblättern mit freundlicher Erlaubnis des Autors.