Der Backfisch

von Anton Kuh

Anton Kuh - Emil Orlik pinx.
Der Backfisch
 
Zur Etymologie; »Back-Fishes« heißen im Englischen Fische, die so klein sind, 
daß sie ins Wasser wieder zurück (back) geworfen werden.
 
Der Backfisch (piscis cupidus ludens) gehört einer in den Großstädten ausgestorbenen Gattung an.
   Er tritt in der Regel in kichernden Sechserreihen auf, die Gesichter einwärts gerichtet; getötet durch Angriffslust, Angst und Mitschülerscham.
   Sein Körper zeigt die possierlichen Unarten des Übergangs, vorn präsentiert er mit Hochdruck seine Weiblichkeit, im Rücken brennt ihm der mütterliche Zuruf: »Halt dich grad!«
   Durch diese Unausgewachsenheit den Appetit anreizend, erweist sich der Backfisch infolge seines Grätenreichtums freilich zumeist als unschmackhaft.
   Wenn ihm die Hand zum Gruß gereicht wird, pinseln seine Finger zaghaft die dargebotene Rechte; oder er ergreift sie mit knackendem Ungestüm und schüttelt sie nach Bergsteiger-Manier. Auf der Flucht vor sanfter Berührung stürzt er sich in die Umklammerung, ängstlich vor der Nähe annulliert er sie durch Temperament.
   Wenn ihm ein Mund begegnet, drückt er seinen Kopf heftig gegen das fremde Lippenpaar, um hier an Stelle eines Vorgangs wenigstens eine Wunde zu hinterlassen. Sein Traum ist der Kuß, bei dem man mit eingepreßten Lippen ganz stark an etwas Schönes denkt - ohne daß ihm beifiele, der Kuß selber könnte etwa das Schöne sein.
   Ein Lebewesen, das von der Natur mit so tiefreichenden Sicherungen bedacht wurde, ist natürlich tollkühn und waghalsig. So mustert der Backfisch seine Beute mit blankerem Aug als jeder Haifisch, sucht Gefahren auf, liebt die Dunkelheit. Aus der Umgarnung durch das Opfer reißt ihn immer der Lachkrampf.
   Unverändert durch die Zeiten blieb ihm die Vorliebe für Autogramme und Künstlerporträts. Er richtet sich sein Nest mit allerhand Visagen aus Papier und Pappe ein. Wenn freilich vor dreißig Jahren ein Chronist seufzte: »Die Backfische schneiden sich den Namen Kainz aus der Zeitung aus und streichen ihn auf die Butterstulle«, so müßte er heute einen kleinen Geschlechtswechsel des Aufstrichs feststellen: die Primadonna ist umträumter als der Held; denn die schöne Frau weht Wirklichkeiten in die Stube, der schöne Mann nur Gelegenheiten.
   Das wissen sogar schon die Backfische. Sie haben die obszöne Phantasie, mit der man das Richtige errät. Sie sind ahnungslos, aber habsüchtig in ihrem Blick aufs Ganze.
   Der Backfisch hat mehr Untugenden als Reize. Er ist neidisch, unzüchtig, unsachlich, ungeduldig. Er erwehrt sich der angelockten Männchen durch die Gewißheit, daß sie von ihm nur das haben wollen, woran er ausschließlich denkt; er legt sich gern Kollektionen verschmachteter Freier an, die anderen weggeschnappt wurden; weil er mit ihnen nichts anzufangen weiß, entläßt er sie nie aus dem Bann; er liebt, kurz gesagt, die Spannungen, die sich, Verwirrung stiftend, in Nichts auflösen. Ab und zu aber geschieht es, daß ein Wort, ein Blick ihn aus den Angeln hebt; dann wird aus der geschlossenen Knospe die Welt noch einmal geboren; das Mädchen von fünfzehn ist plötzlich so bedingungslos Frau wie die Ottilie aus den »Wahlverwandtschaften« oder des Novalis heiliges Mädchen.
   Schlimmer und häufiger ist heute der umgekehrte Fall: daß das Erlebnis Mann zu selbstsicher und leichtfertig antizipiert wurde, um die Backfischseele je zu ändern. Seltsam: gerade frühe Freiheit hindert das Erwachen. je näher die Couch, desto ferner die Liebe. Deshalb ist der Zustands-Backfisch (mulier intacta) zwar (seitdem das Haar der Mädchen nicht mehr im Nacken zu Knödeln aufgesteckt wird, noch in kurzen Pferdepeitschen ums Ohr baumelt) eine Seltenheit. Aber er hat einen böseren Nachfolger hinterlassen: den lebenslänglichen Backfisch (virgo tacta). Diese Art des Backfischs laicht ein paarmal im Jahr. Sie erreicht manchmal stattliche Größe. Sie geht auf Jagd, um nach der Paarung pfeilschnell wieder abzustoßen. Aber ob ihr Haar auch rote Flammen speit, ob sie wie die Garbo aussieht, ob sie Blut aus Kehlen saugt oder zehn oder zwanzig oder hundert Männer konsumiert - sie ist das Pendant zu dem Studenten, der Mann zu sein glaubt, weil er sich im Freudenhaus etwas geholt hat.
 
 
Anton Kuh