Schmucklose Fotografien - aufwendig produziert

Ruediger Glatz – „KAMENICA – Ein Portrait von Chemnitz“

von Johannes Vesper
Kamenica
 
Chemnitz fotografisch
 
Das erste Foto zeigt den riesigen Kopf der Karl-Marx Statue von hinten, ein überraschender Einstieg in das bildnerisches Porträt der Stadt Chemnitz, die 2025 als Kulturhauptstadt Europas gewesen ist. Der zweitgrößte Porträtbüste der Welt stammt von Bildhauer Lew Kerbel (1917-2003) steht seit 1971 an ihrem Ort. In Chemnitz nennt man das Wahrzeichen des deutschen Sozialismus mit sächsischem Witz „dor Nischl“ (Mitteldeutsch Schädel) und den Platz „Schädelstätte“.
Mit seinen Digitalfotografien, die in ihrer Grobkörnigkeit an alte historische Schwarzweißaufnahmen erinnern, deutet und interpretiert Ruediger Glatz die Stadt eher, als daß er sie abbildet.
 
Viele Aspekte wurden aufgegriffen: u.a. Wohnsilos in Plattenarchitektur, modernere Hochhäuser mit eindrucksvollem Schattenwurf, Eisenbahnviadukte, historische Bauten wie Opernhaus und St. Petri Kirche am Opernplatz. 80% der Innenstadt sind bei alliierten Luftangriffen 1945 zerstört worden. Die grauen Bilder ohne Menschen zeigen vor allem mit Leerständen, Überwachungskameras, zugemauerten Türen und der Rakete im Kosmonautenzentrum ein Stadtporträt, welches im wesentlichen an die Zustände in der untergegangenen DDR erinnert. Das merkwürdige Foto aus den Kunstsammlungen Chemnitz mit dem „Segelschiff“ von Caspar David Friedrich läßt in seiner Unschärfe das Gemälde nicht erkennen. Von neuem Glanz der Stadt nach der Wiedervereinigung vermitteln diese Fotos nichts.
 
Kann mit Fotografien Stadtgeschichte erzählt oder lebendig gemacht werde? Im Essay von Sebastian Schmidt werden ihre Eckpunkte vom Erz- und Silberbergbau im 15. Jahrhundert, über die Industrialisierung im 19. Jahrhundert mit Maschinenbau bei zunehmender Erschließung durch die Eisenbahn geschildert. Später wurden großzügige Wohnviertel (z.B. Kaßberg, Sonnenberg) gebaut, die zu den größten Jugendstilquartieren in Deutschland gehören. Der Bauhausstil (Kaufhaus Schocken von Erich Mendelssohn) setzte Akzente, bevor nach der Zerstörung der Innenstadt 1945 in der DDR nach den Prinzipien des sozialistischen Städtebaus Aufmarschstraßen und Plätze angelegt wurden. Mit Interhotel und Stadthalle entstand ein weitläufiges sozialistisches Stadtzentrum, in dem der im Krieg nicht zerstörte Rote Turm und das Rathaus von 1909 historische Inseln bilden. Nach der Wiedervereinigung versuchte man, die Innenstadt wieder herzustellen unter Rückbau der Entwicklung in der DDR. Industrielle Brachflächen boten und bieten Raum für neue Entwicklungen.
 
In seinen eigenen Essay berichtet der Fotograf über seine persönliche Beziehung zu dieser Stadt, die er erstmals 1999 im Rahmen eines Musikfestivals mit Graffiti- Aktion besucht hatte. Im Laufe der Jahre faszinierte ihn die Stadt. Seit 2022 verfolgt er dieses Buchprojekt, besucht die Stadt seitdem siebenmal, durchwanderte sie immer wieder (durchschnittlich 16 km pro Arbeitstag) und führte zahlreiche Gespräche. Er legt mit diesem Buch seine Hommage an Chemnitz vor, das sich mit dem Motto „C the unseen“ um den Titel Kulturhauptstadt Europas beworben hatte. Mit seinem Buch ist die Stadt mit all ihren Brüchen und Wandlungen des Stadtbildes vielleicht sichtbarer geworden. Das letzte Foto zeigt den Fluß Chemnitz (sorbisch Kamenica) unter malerischem Wolkenhimmel irgendwo vor den Toren. Ob dieses aufwendig produzierte Buch mit seinen schmucklosen Fotografien zur gewünschten internationalen Aufmerksamkeit für die Kulturhauptstadt Europas 2025 beigetragen hat?
 
Ruediger Glatz, geb 1957 in Hamburg, fotografiert nicht nur, sondern erstellt zusätzlich auch Videos oder Installationen. Engagiert im Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Fotografie, hat er im Palazzo Delle Esposizione in Rom ausgestellt und war auf internationalen Fotoausstellungen vertreten.
 
Ruediger Glatz – „KAMENICA – Ein Portrait von Chemnitz“
 © 2025 Kehrer Verlag Heidelberg, Ruediger Glatz und Autoren, VG Bild-Kunst für die Werke von Wieland Förster, Harald Stephan und Horst Zickelbein. Texte von Ruediger Glatz, Sophie-Charlotte Opitz, Sebastian Schmidt. 17x23 cm, Freirückenbroschur mit Schutzumschlag, 174 Duplex-Abbildungen, Deutsch-Englisch - ISBN 978-3-96900-2
40,-€
 
Weitere Informationen: www.ruedigerglatz.com  -  www.kehrerverlag.com