Sonntagmorgen - mit Rodo

Eine Erzählung

von Karl Otto Mühl

Foto © Frank Becker
Sonntagmorgen

mit Rodo
 
 
Der Sonntagmorgen hält mir sein graues, regnerisches Gesicht entgegen. Ich stehe allein am Dreieckstisch in der Bäckerei und blicke auf die Straße hinaus. Aus dieser Regenwand vor mir werden heute keine Freuden auf mich zukommen, es sei denn, ich verschaffe sie mir. Kurz erkundige ich mich bei der kleinen Bäckerin wie immer nach ihrer Nichte, die ihre wichtigste Beziehung darstellt, und nach ihren Plänen für heute (es gibt keine, aber sie freut sich auf das Ausruhen), belasse es bei einem Pott Kaffee und steige in mein Auto. Ich habe einen Ausweg gefunden.
 
Der führt ins nahe Schwimmbad. An der Kasse wird mir viel Spaß gewünscht – die müssen alle einen Kursus gemacht haben, früher waren die nicht so. Beim Verlassen, später wünscht mit die Dame einen schönen Tag, ich ihr auch, ich wende mich zum Gehen, zum Ausgang - - da blicke ich in zwei braune Hundeaugen.
 
Es ist Rodo. Er gehört einem alten Bekannten, Hanskarl Pietroch, von Beruf Alleinunterhalter. Er ist nicht nur das, sondern auch ein begabter Hundedresseur. Hunde werden unter seinen eindringlichen  Belehrungen gefügig, merkfähig und anhänglich. Rodo zum Beispiel wartet hier hinter dem Kassen-Glaskasten fast eine Stunde auf Hanskarl, ohne daß der ihn anleinen mußte.
Hanskarl kenne ich schon lange. Wir haben schon als Achtjährige in unserer Straße, durch die damals so gut wie nie ein Auto fuhr, zusammen Fußball gespielt. Er ist ein Mensch ohne Geheimnisse. Was es gibt, was ihm passiert, was er vorhat, er erzählt alles und fragt auch nach allem – ob ich mit dem Geld auskomme, ob meine Frau auch noch gesund ist, ob ich wie er nachts öfter mal raus muß. Vielleicht vertraut man als Alleinunterhalter eben allen Menschen, so, wie er es tut. Obwohl er längst Rente bezieht, ist er noch unermüdlich bei Vereinsfesten unterwegs
 
Da kommt er schon die Treppe vom Hallenbad herauf, die Haare noch naß, das Gesicht erfrischt und gerötet.
 „Ich denke schon den ganzen Morgen an dich“, sagt er, „ich hatte da heute morgen eine große Bitte an dich.“
 „Erzähl doch“, sage ich.
Es sei schon so gut wie erledigt, sagt Hanskarl. Er wollte mich ursprünglich fragen, ob ich den Hund eine Woche lang nehmen kann, aber nun nimmt ihn die Schwägerin. Er hat schon mit ihr telefoniert.
 
Hanskarl muß nach Mallorca zum Alleinunterhalten, und ß seine Frau bekommt in der Zwischenzeit eine neue Hüfte. Er kann sich dort ja nicht um das Tier kümmern. Sorgen hätte ich mir dabei keine machen müssen, hat Hanskarl gesagt, Rodo würde alles verstehen. Vielleicht ein andermal.
Ich habe noch einen Blick auf den zurückbleibenden Rodo geworfen, und er hat zurückgeblickt. Fast vertrauensvoll. Schade.
Wieder zuhause vom Schwimmen, ruhe ich mich ein wenig aus. Wahrscheinlich werde ich nachher zum Spazierengehen gerufen, aber eigentlich bin ich sehr müde, sehr, sehr müde, und vielleicht schlafe...
 
Plötzlich sehe ich Rodo. Er verhält sich hier schon den ganzen Tag über mustergültig. Er geht ohne Leine mit uns spazieren, und abends liegt brav vor dem Kamin und paßt auf, ob wir etwas von ihm wollen. Ich verstehe nicht, daß Rodo nicht mit nach Mallorca darf; es ist eine Lieblosigkeit von Hanskarl, und wir müssen überlegen, ob wir uns nicht das Sorgerecht für das Tier zusprechen lassen sollen.
 
Bald muß ich allerdings mein Verhältnis zu Rodo auf eine neue Grundlage stellen. Ich komme gerade aus dem Bad, und da sitzt er bereits am Tisch und trinkt die erste Tasse Kaffee.
 
„Woher hast du diesen Anzug, Rodo?“, frage ich streng.
„Ich habe ihn aus dem Schrank genommen“, sagt er, „ich konnte ja nicht ohne was an zum Frühstück gehen. Tut mir leid, daß ich dich nicht vorher fragen konnte.“
 „Hauptsache, er paßt“ sage ich. Ich bin gekränkt und starre Rodo böse an. „Es ist mein bester Anzug.“
 „Ich weiß, ich weiß.“
 „Und überhaupt, was soll das ganze Theater?“ frage ich.
 „Ganz einfach“, antwortet Rodo, „für Hanskarl habe ich natürlich gerne Hund gespielt. Aber das kannst du ja wohl nicht erwarten tut mir leid. Du hast nicht diese Erfahrung mit Hunden wie er. Nebenbei, kannst du mir einen Hunderter leihen? Ich kann ja nicht ohne einen Cent in der Tasche herumlaufen.“
 „Wo willst du denn hin, Rodo?“
 
„Erst einmal zum Arzt. Die Warze da wollte ich mir schon lange entfernen lassen.“ Rodo zeigt auf eine Warze an der Pfote. Ich schaue sie mir an und sage: „Fast so wie meine Warze. Die soll übermorgen auch operiert werden. Es ist widerlich. Da werde ich dieser Metzgerin im weißen Kittel ausgeliefert sein, die hinter mir an meinem Rücken fuhrwerkt. Man hat keine Angehörigen bei sich, niemand gibt einem Halt. Nicht einmal Vollnarkose halten die für notwendig. Wahrscheinlich sparen sie sich die nur bei Kassenpatienten.“
Ich warne Rodo. Es gibt schlimme Geschäftemacher unter den Ärzten.
 „Hier ist de Post“, sagte Rodo. „Ich habe sie schon reingeholt. Was steht denn drin.“
 
Ich informiere Rodo. Der Nachbar will mich verklagen, wenn ich den Hund nicht entferne „Der soll sich auf was gefaßt machen“, sagt Rodo - , will notfalls an die Öffentlichkeit gehen; ein anderer Nachbar will mich ebenfalls verklagen, wenn ich den Balkon nicht genau in dem Farbton streiche, den er und sein Nachbar haben, das Finanzamt will mich pfänden, wenn ich nicht sofort die Umsatzsteuererklärung einreiche, und zwar elektronisch, was ich ja gar nicht beherrsche; die Stadt will rückwirkend dreiundzwanzigtausend  Euro für den Straßenbau von 27 Jahren haben, weil wir Anlieger seien – und hier, da ist noch etwas: Die Heizungsfirma will 250,- Euro. Der Monteur war zehn Minuten hier zum Ein- oder Um- oder Anstellen, aber weil es Sonntag war ...
 
„Sonntags bekomme ich auch immer etwas Besonderes“, sagt Rodo. „Aber Ihr Menschen seid nicht nett zueinander“, sagt er. „Macht Ihr das immer so?“
 „Wer?“
 „Na, Ihr Zweibeiner.“
 „Anders kenne ich es nicht“, sage ich.
 „Na gut“, sagt Rodo, „ich gehe jetzt zum Arzt.“
 
Er kommt nach zwei Stunden wieder. Der Arzt sei ein sogenannter Belegarzt, er habe ihn gleich ins Krankenhaus in seine Abteilung geschickt. Dort habe er sich morgens auf dem Operationstisch befunden und erfahren, daß die Pfote amputiert werden sollte. Aber da war eine Krankenschwester, klar, die hatte sich ein bißchen in ihn verguckt, das passiere ihm öfter, aber die habe ihm verraten, daß der Arzt einfach noch eine Anzahl von Operationen brauche, sie kenne das von ihm –
 
„Weg war ich“, sagt Rodo. „Ein Sprung durchs Fenster. Der hat schon blöd geschaut.“
 „Und wo warst du bis jetzt?“
 Er sei beim Rechtsanwalt gewesen, um zu erfahren, ob er den Arzt verklagen könne. Nur das, kein Wort mehr habe er gesagt.
 „Und?“
 Der Rechtsanwalt habe gesagt, er werde ihm dazu schreiben. „Und hier ist die Rechnung, vierhundert Euro.“
 „Aber er hat doch gar nichts gemacht!“ sage ich empört.
 „Ich hätte den Fall in seine Hände gelegt. Dafür sei die jetzt nachfolgende Korrespondenz und Bearbeitung inbegriffen.“
 „Wahnsinn“, sage ich.
 
Im Bus hätten drei Burschen den Fahrer zusammenschlagen wollen...
„Und?“ frage ich. „Polizei gerufen?“
„Unsinn“ sagt Rodo. „Die Sache ist erledigt. Die Drei sind im Krankenhaus.“
Rodo setzt sich. Er ist nachdenklich geworden. Dann blickt er mich lange an und sagt schließlich, er gehe jetzt nach Hause, nein, er braucht keine Hilfe, er kommt gut allein zurecht.
„Und hier ist dein Anzug“, sagt er. „Ist sowieso nicht vom Feinsten. Also, ab jetzt siehst du mich nur noch auf vier Beinen. Ich habe verstanden, wo die besseren Menschen sind.“
„Wenn du dich so wohler fühlst, bitte“, sage ich beleidigt.
 
„Das tue ich“, sagt Rodo. „Ich  bleibe lieber Hund. Tut mir leid, daß ich das sagen muß, aber das Leben als Zweibeiner gefällt mir nun doch nicht. Diese Leute alle, weißt du...“
 
Meine Frau kommt herein. „Schläfst du?“ fragt sie. „Warum rührst du denn dein Frühstück nicht an?“
Sie wird lauter:  „Ist was mit dir? Du stierst so vor dich hin.“
„Ich dachte gerade an Rodo“, sage ich aufblickend. „Hanskarl sagte mir vorhin im Schwimmbad, er könne ihn nicht mitnehmen nach Mallorca. Jetzt hängt das arme Tier bei seiner Schwägerin oder so jemand herum.“
„Das kann ich mir nicht denken“, sagt  meine Frau. „Hunde durften schon immer nach Mallorca. „Vielleicht hat er ihn sogar mitgenommen.“



© Karl Otto Mühl - Erstveröffentlichung in den Musenblättern 2009
Redaktion: Frank Becker