Der Finger am Abzug

Thomas Braus glänzt in Turrinis "Endlich Schluß!"

von Frank Becker
„Ich zähle jetzt bis tausend
und dann bringe ich mich um.“
 
Thomas Braus glänzt mit dem
Peter Turrini-Solo
„Endlich Schluß!“
 

Inszenierung: Gerd Leo Kuck – Ausstattung: Philipp Kiefer – Dramaturgie: Wilfried Harlandt – Musik, Regieassistenz: Stefan Leibold – Inspizientin: Ellen Uta Merkert – Maske: Markus Moser – Fotos: Michael Hörnschemeyer
Besetzung: Thomas Braus (Der Mann)
 
Es ist gerichtet...
 
 
Die Kerzen zur Toten-Andacht sind bereits angezündet - es mögen 120 sein, die auf den sechs Opfertischen brennen, welche im Altarraum der Elberfelder City-Kirche aufgestellt sind, die sich als Spielstätte der Wuppertaler Bühnen etabliert hat. Mit Peter Turrinis Stück „Endlich Schluß!“ betreten die Veranstalter ein höchst sensibles Terrain, an diesem Ort zumindest. Es geht um den Tod, den sich der Protagonist vorsätzlich zufügen wird. Der schwarz gekleidete Mann (Thomas Braus) schält sich vorsichtig aus dem Wust von schwarzen Tüchern, die den Raum bedecken, erst zögernd, dann leise lächelnd, er trägt eine rote Clownsnase im Gesicht und eine goldene Krone mit acht Zacken auf dem Kopf, von dem ihm schütteres, sehr langes Haar in fettigen Strähnen weit über die Schultern fällt. Die geränderten Augen lassen ihn übernächtigt erscheinen, die viel zu weite Hose, ebenfalls einem Clownskostüm ähnlich, ausgemergelt. Sein Gesicht ist blaß, er wirkt unstet.
 
Nur noch die Stille
 
 
 
„Ich zähle jetzt bis tausend und dann bringe ich mich um.“ Er lächelt. Wenn ich die Zahl Tausend erreicht habe, werde ich mich erschießen.“ Er zeigt einen großkalibrigen Revolver.  Doch dann gibt er sich den Anschein eines glücklichen Menschen, kommt ins Plaudern, betont seinen steten Erfolg, nennt sich einen bedeutenden Menschen. Alles im Leben ist ihm gelungen, stets standen Glück und Erfolg an seiner Seite. Ein freier Journalist war er, brachte es sogar zum Leitenden Redakteur einer führenden Tageszeitung. Doch die Botschaft, die er dem Publikum mit seinen ersten Worten vermittelt hat, steht im Raum und dieser Selbstbeschreibung diametral gegenüber. Er scheint entschlossen, seinen Plan umzusetzen, erzählt, wie er sich mehr und mehr zurückzog, in seiner Wohnung isolierte, alle Verbindung nach draußen kappte. „Ich interessierte mich nur noch für die Stille“. Und er beginnt zu zählen. Bei 65 nimmt er kurz die Nase ab, bei 200 setzt er sie wieder auf. Es liegt ein rührender Hauch von Glück auf seinem Gesicht, als er den Fortgang des Zählens spürt, den Revolver in der Hand, den Finger stets am Abzug. Bis tausend zählen dauert...
 
Dramaturgischer Bruch
 
Wird er sich umbringen? Alles im Raum spricht dafür. Todessymbole sind breit gestreut. Die Kerzen,
 
das lastende Schwarz, das todesbleiche Gesicht, die nackten Füße (ich sage nur: Abbey Road...). Doch das Rot seiner Nase, der Krawatte, verschiedener roter Versatzstücke, die er unter den schwarzen Tüchern hervorzieht, täuschen für Momente Hoffnung vor. 500. „Der halbe Tod!“. Und er zählt weiter. Zwischen 500 und 519 klingelt es an der Wohnungstür. Er geht nicht hin. Das ist ein Bruch in Turrinis Geschichte oder der Dramaturgie, denn wer Telefon, Internet, jegliche Kommunikation abstellt, die Post nicht mehr annimmt, die Fenster abdichtet und verklebt, sollte der die Türklingel vergessen? Oder wartet er auf einen, der klingeln könnte? Nein, er geht nicht hin. Hier stimmt die Geschichte um eines Effektes willen nicht. 536. Er beginnt hektisch und atemlos die Kerzen auszublasen. 600, 700, 800, 900. 936: ein Bündel Briefe taucht auf, wird nach kurzem Zögern weggeworfen. Auch der Zuschauer atmet heftiger.
 
Der wahre Grund
 
 
980! Man fiebert. Der Mann schaut ein großformatiges Foto an, spricht mit ihm – jetzt wird der Grund seiner Todessehnsucht, die jetzt blanke Verzweiflung verrät, offenbar. Sie ist nicht mehr bei ihm. Sie, die er in jedem Moment seines verlorenen Lebens sieht. Sie, auf deren Stimme er zu lange gewartet hat. Wir erfahren nicht, ob sie ihm gestorben ist oder ihn verlassen hat. Entscheidend: sie ist weg, aus, vorbei. Sie ist der entscheidende Grund. Ohne diese eine war der ganze Rest hohl, nur Schall und Rauch. Ein Leben ohne diese Liebe hat keinen Sinn mehr. Mit der Asche des Bildes, das er an einer der letzten Kerzen entzündet, schwärzt er sein Gesicht. Das letzte Symbol.
999. „Ich wär´ jetzt gern woanders“. Lebenssehnsucht und Todeswunsch begegnen sich in einem letzten Aufbäumen. Tausend. „Endlich Schluß“. Ein Schuß. Aus.
 
Große Leistung
 
Gerd Leo Kuck hat sich diesen Turrini zu seinem Abschied von den Wuppertaler Bühnen geschenkt
 
und damit ein Kabinettstück, eine Delikatesse abgeliefert. Thomas Braus, der denkbar geeignetste Darsteller seines Ensembles stand ihm dabei als Idealbesetzung zur Seite, beschenkte das Publikum mit einer Bilderbuch-Interpretation. Er verkörperte die Figur des Mannes, der mit Ansage Schluß macht, mit ungeheurer Spielfreude und zutiefst beeindruckend. Schalk und Zorn, Ironie und Wut, Verstörung und Angst – Emotionen, die er in raschem Wechsel unter die Haut gehend vermittelt. Als er sich zur Stille bekennt, schafft er es, mit dem Publikum minutenlang in völliger Geräusch- und Atemlosigkeit zu verharren. Man folgt jeder seiner bedeutsamen Bewegungen, Aktionen und Veränderungen in Temperament und Ausdruck. Ein Kammerspiel für einen Darsteller, das ihn durch die ganze Palette menschlicher Regungen führt und eine rare schauspielerische Leistung in 60 fesselnden Minuten, die Braus – nicht zum ersten Mal – als einen genialen Mimen ausweist. Der Lohn für Regisseur und Schauspieler war nur zu berechtigt anhaltender, jubelnder Applaus. Chapeau!
 
Informationen über weitere Aufführungstermine unter: www.wuppertaler-buehnen.de