Wort zum Sonntag

von Hanns Dieter Hüsch

© André Polozcek / Archiv Musenblätter
Wort zum Sonntag

Wenn ich mir jetzt, meine lieben Zuhörer, eine Brille auf­setze - und Sie mir freundlichst erlauben in Ihre Stube hinein, zu Ihnen zu sprechen, in Ihren eigenen Bereich hineinzuschauen, so hat das mit der Brille ja heute eine eigene Bewandtnis.
 
Vor einigen Tagen sah ich, wie ein netter junger Mann nach Anbruch der Dunkelheit sich eine alles noch mehr verdunkelnde Sonnenbrille aufsetzte. - Ein andermal hörte ich, wie jemand zu seinem Nachbarn sagte: Eine rosarote Brille, und alles sieht gleich ganz anders aus. Da habe ich mich gefragt: Was sieht denn gleich ganz anders aus?
 
Und wie oft hört man heute, ich habe nicht den richti­gen Überblick, ich sehe da nicht mehr klar, ich schaue da nicht mehr hindurch. - Sollten da vielleicht zuviel Sonnenbrillen und zuviel rosarote Brillen mit im Spiel gewesen sein.
 
Wer immer nur Buttercremetorte ißt, weiß eines Tages gar nicht mehr wie Buttercremetorte schmeckt. Und wer sich eine Sonnenbrille oder eine rosarote Brille aufsetzt, der muß nicht meinen, daß Gott nicht unseren wahren Alltag sieht. ER ist unser Optiker. ER braucht keinen Kneifer und keinen Aussichtsturm. ER ist WEITsichtig und KURZsichtig zugleich. Er sieht uns an und durch uns hindurch. Durch und durch. Für und für. ­
 
Lassen Sie mich schließen mit einem Wort, das uns die Augen öffnen helfen will, mit einem Wort des böhmi­schen Wanderpredigers Heinrich Ignaz Mützenbecher, der da sagt: "Möge, der Du sein werdest, dann siehst Du, was Du sein dürftest!"
 
Guten Abend.

(1963)



© Chris Rasche-Hüsch
Veröffentlichung aus dem Band "Den möcht´ ich seh´n..." in den Musenblättern mit freundlicher Genehmigung