Demenz – Abschied zu Lebzeiten

Julia Engelbrecht-Schnür / Britta Nagel - " Wo bist du?"

von Jürgen Kasten
Demenz – Abschied zu Lebzeiten
 
Eine Million Demenzkranke leben in unserem Land. Um 200.000 steigt ihre Zahl Jahr für Jahr. Da ist es nur verständlich, daß dieser Tage in Bonn das Deutsche Demenzzentrum eröffnet wurde. Es soll die Krankheit erforschen, mögliche Gegenmittel entwickeln und Öffentlichkeitsarbeit leisten. Dafür stellt der Bund jährlich 66 Millionen Euro zur Verfügung. Olivia Dibelius wurde als einzige Frau vom Forschungsministerium seinerzeit in den Gründungsbeirat berufen. Die Professorin für Pflegewirtschaft, Gerontologie und Ethik unterrichtet an der Evangelischen Fachhochschule in Berlin.

Die Kranken selber haben an dem Verfall ihres geistigen und oft auch körperlichen Vermögens schwer zu leiden. Mindestens genauso schwer trifft es jedoch die Angehörigen. Überdeutlich wird das beim Lesen der Protokolle und Interviews, die von den beiden Autorinnen Julia Engelbrecht-Schnür und Britta Nagel zusammengetragen wurden. In ihrem persönlichen Umfeld wurden sie selber mit der Krankheit konfrontiert, von der selbst viele Ärzte noch kaum etwas wissen. Mit diesem Buch soll das geändert werden.
 
Olivia Dibelius kommt in dem Buch ebenso zu Wort wie Humanmediziner, ganzheitlich arbeitende Waldorfmediziner, Pfleger und zum Beispiel Professor Konrad Beyreuther. „Der Molekularbiologe hat in den achtziger Jahren gemeinsam mit einem britischen Kollegen den BSE-Erreger entdeckt und später das APP-Gen, das Schlüsselgen der Alzheimerkrankheit,…“, der nach Alois Alzheimer benannten Krankheit, die der Mediziner vor 100 Jahren erstmalig diagnostizierte. Sogenannte Amyloid-Plaques sind es, die das Gehirn zerstören. Je älter ein Mensch wird, umso wahrscheinlicher ist es, daß er der Krankheit anheim fällt. Es besteht keine Chance auf Heilung, allenfalls können Medikamente den Prozeß verlangsamen. Konrad Beyreuther ist daher der Meinung, daß Prävention derzeit das einzig probate Gegenmittel ist. Gesunde Lebensführung, die Geist und Körper stärkt, meint er damit, denn „ein Gehirn, das nicht mehr benutzt wird, macht eben Unfug.“
 
Unterschiedlichste Menschen geben offen Auskunft, wie sie die Erkenntnis übermannte, einen geliebten Menschen zu verlieren. Der Mensch lebt (noch); aber verfällt sichtbar. Nicht nur der Verlust der Orientierung, der Gedächtnisschwund, die Wortfindungsschwierigkeit bis hin zum völligen Verstummen, erschrecken das Umfeld. Mehr noch die damit einhergehende Wesensveränderung. Die Erkrankten werden aggressiv, depressiv, verlieren die Kontrolle über sich und ihr Tun.
Angehörige versuchen die Beziehung zu stabilisieren, zu helfen, zu pflegen - und sind überfordert. Oft brechen sie selber zusammen. Eine 24-Stunde-Pflege wird notwendig, die niemand leisten kann. Das Pflegeheim ist der einzig gangbare Ausweg. Doch dort liegt vieles im Argen. Auch das wird beschrieben; aber auch positive Beispiele genannt.

All dies ist deprimierend zu lesen. Hoffnung klingt kaum durch. Der Band muß während der Lektüre des öfteren beiseite gelegt werden, obwohl es „nur“ 14 Kapitel hat. Eindringliche s/w-Fotos hat Julia Engelbrecht-Schnür jedem Kapitel beigefügt. Ein ernstes, ein trauriges; aber absolut notwendiges Werk. Jeder sollte es sich zumuten. Ich wünsche diesem Buch vielfache Verbreitung, vor allem auch in Arztpraxen und Pflegeheimen.
Am 24. Juni 2009 hat übrigens NRW-Ministerpräsident Jürgen Rüttgers das Deutsche Demenzzentrum in Bonn der Öffentlichkeit übergeben.

Redaktion: Frank Becker
Beispielbild

Julia Engelbrecht-Schnür / Britta Nagel
Wo bist du?

Demenz – Abschied zu Lebzeiten
 
Mit 60 Fotos von Engelbrecht-Schnür
 
© 2009 Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg, 1. Auflage
Gebunden mit Schutzumschlag, 159 Seiten
ISBN: 978-3-455-50107-0
€ 25,00
 
Weitere Informationen:
www.hoca.de