Sonntagmorgen (XVII)

mit psychologischer Beratung

von Karl Otto Mühl

Foto © Frank Becker
Sonntagmorgen XVII

mit psychologischer Beratung
 

Bevor ich hinauf fuhr – mein Wald liegt auf einem Höhenzug  unserer hügeligen Stadt -, und bevor ich nach längerem Rundgang zu meinem Stehcafé fuhr, habe ich es im Spiegel gesehen: Mein Haupthaar wird dünner, ja, es schwindet sogar. Mit Schaudern stelle ich mir vor, wie mein völlig unbehaarter Kopf aussehen wird. Als der Affe, der ich ja nach der Evolutions-Theorie bin, stehen mir eigentlich Haare zu. Der Gedanke, daß gutaussehende Männer trotz Glatze  beeindrucken und daß man sie täglich zu Dutzenden sehen kann, tröstet nur schwach.
Es gelingt mir, bei der Haupt-Bäckerin das Gespräch auf dieses bedrängende Thema zu  bringen. Ich fange es geschickt an, bemerke, daß sie wohl neuerdings beim Friseur gewesen sei. Sie ist geschmeichelt, bemerkt aber abwiegelnd, es sei einfach nötig gewesen. Das wiederum gibt mit Gelegenheit, scheinbar ohne innere Anteilnahme zu bemerken, bei mir sei es infolge schwindender Haare immer seltener nötig. Sie darauf, offenbar psychologisch geschult, weist dies zurück, betont, an den Seiten sei es eben besonders dicht bei mir.
 
Nach diesem Zuspruch sieht die Welt schon ganz anders aus. Ich sehe die Häuser der Siedlung, Bäume, Sträucher, rissigen Asphalt prall und deutlich ins Sonnenlicht treten und fühle mit jenem krebskranken Regisseur, von dem ich gestern in der Zeitung den Ausspruch las: „So schön kann es im Himmel gar nicht sein“.
Ich gehe noch weiter als er, ich denke: Vielleicht ist die Welt und ist der Mensch gar nicht so sinnlos entstanden, wenn doch unzählige Bedingungen erfüllt sein mußten, damit so eine Welt wie unsere und solche Menschen wie wir überhaupt entstehen konnten. Mein Freund Fariborz, ein jordanischer Arzt, redet immer von Proteinen  und anderen Dingen, die das geschafft haben, und er verlangt wissenschaftliche Nachweise für alles, was darüber hinaus geht. Ihm möchte ich sagen: „So intelligent können Proteine gar nicht sein.“
Aber nun, da mir Fariborz eingefallen ist, will ich ihm auch Guten Morgen sagen. Er wohnt nämlich nur 5 Fahrminuten entfernt. Er lebt allein, hat zwei Katzen, arbeitet tagsüber in der Klinik und wird wütend, wenn er jemanden etwas behaupten hört, was dieser lediglich glaubt.
 
Obwohl mir mein Haarausfall selbstverständlich vollständig gleichgültig ist, gerät das Gespräch seltsamerweise, ich weiß auch nicht warum, dann auf die Frage von Haarwuchs und Haarausfall. Fariborz scheint sich nicht darüber zu wundern, er schaut mich kurz an und berichtet dann von einem Freund, dem diese Haar-Ausdünnung schon in jüngeren Jahren widerfahren sei. Er habe damals sofort eine Gegenmaßnahme ergriffen und sich eine Perücke konstruieren lassen. Von einem Tag auf den anderen stand er plötzlich völlig verändert vor Fariborz, ja, er hatte seine Identität verloren. Aber ihn zierte ein prächtiger, mittelbrauner Wuschelkopf.
Inzwischen sei er älter geworden. Statt wie wir anderen in mehr oder weniger Ehren zu ergrauen, bleibe er jugendlich mittelbraun. Manchmal klage er darüber, daß er unter der Perücke schwitze. Aber was solle er tun?  Sich zehn abgestufte Perücken anfertigen lassen? Anscheinend wolle er das nicht. Er sei ein Gefangener seiner Perücke. Fariborz weiß nicht, was er ihm raten soll.
 
„Auch Grau ist nicht so schön“, sage ich. Selbst wenn man seine Haare behält, werden sie grau, denke ich. Es gibt kein Entkommen. Bei gefärbten Haaren sieht Fariborz wenig Bedenkliches. Das sei reversibel, und jeder solle es halten wie er möchte. Schließlich könne man die Haarfarbe zum Outfit zählen, und das müsse veränderbar bleiben. Vielleicht habe seine nächste Freundin rote Haare.
 
Dann holt Fariborz die Kaffeekanne, schenkt ein, blickt mich an und sagt: „Ich weiß nicht, warum die Leute immer anders sein wollen als sie sind. Das Ganze ist ein riesengroßer Irrtum und eine riesengroße Dummheit: Wie wir sind, körperlich und charakterlich, das sind wir! Wir wollen überhaupt niemand anders sein. Wir sind dick, dünn, knochig, hager, fett, haben Hakennasen und Stupsnasen, sind unverwechselbar. Ich kann gar nicht so laut schreien wie ich es einhämmern möchte: Leute, nehmt euch wie Ihr seid. Es ist ein einmaliges Geschenk.“
 
„Genau!“ sage ich. „Sie sollen Schlingensief fragen.“
„Wer ist Schlingensief?“ fragt Fariborz.
„Einer wie du und ich“, antworte ich.



© Karl Otto Mühl - Erstveröffentlichung in den Musenblättern 2009
Redaktion: Frank Becker