Sonntagmorgen (XVIII)

Knappes Geld

von Karl Otto Mühl

Foto © Frank Becker
Sonntagmorgen XVIII

Knappes Geld
 

Heute, am Sonntagmorgen, bin ich wieder einmal mit der ältlichen Bäckerin allein. Sie lobt mich, weil ich schon so früh an der frischen Luft bin. Auch sie wird ein ganz neues Leben anfangen, wenn sie erst einmal pensioniert ist.
Was sie dann machen wolle?
Nun, erst einmal ausschlafen, nichts als ausschlafen. Dann wird man weiter sehen.
 
Einige bekannte Gesichter aus der Siedlung tauchen auf. Und verschwinden mit ihren Brötchen-Tüten.
Ob sie dann finanziell zurechtkäme?
Vielleicht nicht ganz, sagt sie. Aber vielleicht findet sich etwas nebenher.
Ich berichte ihr, daß ich gestern am Frankfurter Bahnhof jemand getroffen habe – also, der habe sich zu mir gesetzt. Ich saß nämlich außerhalb einer Bäckerei vor dem Schaufenster im Frankfurter Hauptbahnhof und frühstückte –
„Ach, Sie frühstücken auch woanders!“ sagt sie empört.
Nur in Frankfurt, beruhige ich sie, nur in Frankfurt mache ich das, vor der Zugabfahrt. Oder solle ich bis hierher hüpfen?
Sie schweigt, aber etwas Groll scheint zu bleiben.
 
Also, sage ich, ich habe ja berichten wollen. Von dem Mann, der sich zu mir gesetzt hätte. Den hätte ich nach einigen einleitenden Worten schon nach seinem Beruf gefragt.
„Beruf?“ habe er zurückgefragt. „Habe ich nicht.“
„Was machen Sie dann?“
„Ich schreibe Gedichte.“
„Das ist etwas Schönes“, hatte ich geantwortet. „Und davon können Sie leben?“
„Nicht ganz. Nebenbei bin ich Nachtwächter.“
„Bei einem Sicherheitsdienst?“
„Nein, nein. Ich bin Stadtführer in Nachtwächter-Uniform. Dabei trage ich eine Hellebarde.“
Verrückt. Noch nie hatte ich so etwas gehört.
 
Die Bäckerin hat sich alles mit unbewegtem Gesicht angehört. „Wenn er doch zurechtkommt!“, sagt sie schließlich. „Nachtwächter würde ich auch machen. Gedichte weniger.“
 
Sie glaubt, daß sie grundsätzlich allen Problemen gewachsen ist, denke ich. Ganz anders als du. Andauernd stellst du dir vor, wie es plötzlich anders sein könnte. Dir fehlt eine Salbe, ein Glas zerbricht, du kaufst für beides Ersatz, du mußt tanken, du fährst aus der Stadt heraus zu einem Lokal, tankst aber vorher, besorgst Kinokarten für dich und deine Frau, kaufst ein Geburtstagsgeschenk, bringst Schuhe zum Reparieren - und plötzlich hättest du kein Geld mehr für das alles! Was dann? Nicht einmal Baldrianpillen könntest du dir kaufen, damit du schneller einschläfst und alles vergißt. Der Gerichtsvollzieher ruft an, innerhalb acht Tagen sollst du den Pfändungsbetrag beschaffen, sonst kommt er. Er nimmt den Laptop mit, sagt er, der alte PC da genügt für dich.
 
So ein Mann mit knapper Kasse steht kurze Zeit später neben mir und trinkt eine kleine Tasse Kaffee. Zwei Brötchen hat er gekauft, die liegen in einer Tüte auf unserem Dreieckstisch. „Ich frühstücke erst richtig zu Hause“, sagt er mit Blick auf mein Brötchen mit heißem Leberkäse. „Ist billiger, wissen Sie.“ Er blickt mich, Verständnis fordernd, an.
„Herr Pimpel war Buchhaltungsleiter“, erklärt die Bäckerin hintergründig.
„Ich bin einfach arbeitslos“, ergänzt mein Nachbar. „Hartz IV. Aber irgendwas macht man ja immer. Und Sie?“
„Hauptsächlich Schwimmen.“
„Was kostet das? Ich glaube doch dreifünfzig.“
Ich erkläre, daß es bei meiner Mehrfachkarte nur die Hälfte ist. Das sei auch richtig, sagt er nachdenklich und voller Demut. Es sei eine Art Mengenrabatt. Ganz normal. Für ihn zu teuer.
„Morgen um Neun könnte ich Sie mit reinnehmen.  Es ist immer ganz lustig dort“, sage ich vorsichtig. Hoffentlich kränke ich ihn nicht.
„Um Neun? Gut. Ich stehe dann an der Kasse.“
 
Dann sind wir still. Erst muß wieder verblassen, daß wir uns soeben entblößt haben, ich als Gutmensch – was ja, ehrlich gesagt, fast kostenlos ist -, und er als Almosenempfänger.
 
Die Stille dauert an. Manchmal wird sie entlastet, wenn ein neuer Hund draußen am Haken befestigt wird.
 
„Gegen Mittag soll es aufklaren“, sage ich.
„Es fängt bereits an, da, die Wolken verziehen sich. Sehen Sie? Ich muß jetzt weg. Die Steuererklärung für meine Schwester machen. Bis morgen.“
Herr Pimpel geht. Er hat zarte Finger, habe ich bemerkt, und harmlose, kleine, aber feinziselierte Ohren. Die teure Brille stammt aus wohlhabenderen Zeiten.
 
Ich stehe kaffeeschlürfend weiterhin am Tisch. Wie mache ich je wieder gut, daß ich einen Menschen gedemütigt habe, daß ich es normal finde, daß ich respektvoller behandelt werde als ein Mann, der ein Territorium von Tausenden von Konten überblicken kann, und zwar zehnmal besser als ich?
 
Er kann sich keine Salbe und keine Beruhigungspillen kaufen, kein Trinkgeld geben, nicht abends zur Entspannung ein Bier in der Gassenschenke trinken. Ich gebe ihm keine Arbeit, schenke ihm nur vom Überfluß des Rentners. Wer kann mir das alles je verzeihen?
 
„Ich glaube, darauf habe ich schon vor langer Zeit hingewiesen“, sagt ein Stimme in mir.



© Karl Otto Mühl - Erstveröffentlichung in den Musenblättern 2009
Redaktion: Frank Becker