Haß und Alpträume

Donna Leon - "Das Mädchen seiner Träume" (Commissario Brunettis siebzehnter Fall)

von Frank Becker
Alpträume

Der Titel  von Donna Leons siebzehntem Brunetti-Roman
"Das Mädchen seiner Träume", der mit der Beerdigung von Brunettis Mutter beginnt, führt hintersinnig, wenn nicht gar hinterlistig in die Irre. Das tut auch der Plot um den Tod eines im unmittelbaren Tatzusammenhang mit einem Einbruch ertrunkenen Zigeuner-Kindes, seine anscheinend völlig gewissenlose Roma-Sippe und die diesmal erst sehr spät in den Fokus rückende entscheidende Rolle der gesellschaftlichen Kreise und Verbindungen der Familie Fornari-Vivarini, Opfer des nächtlichen Einbruchs. Das Bild des ertrunkenen Kindes, das Brunetti und Inspektor Vianello aus einem Kanal bergen, wird den Kommisar bis in seine quälenden Träume verfolgen.

Donna Leon hat sich, wie schon bei der Besprechung von "Lasset die Kinder zu mir kommen" im vergangen Jahr angemerkt, vom Genre Kriminalroman weitgehend entfernt. Wieder dient eine Ermittlung in einem wahrscheinlichen Verbrechen als Aufhänger für Brunettis Reflexionen über die Schlechtigkeit der Welt, wird die zunehmende Weltverdrossenheit des Philanthropen Guido Brunetti lediglich noch von der heilen Welt seiner intakten Familie aufgefangen, der als Gegenpol der Lebensentwurf der "nomadi", der Zigeunerfamilie Rocich diametral gegenüber steht. Ihren idealistischen wie intellektuellen Helden Brunetti beschädigt Donna Leon gezielt nicht, die unbequemen Positionen der Wahrheit über straffällige Zigeuner, ihr Verhältnis zum und
den unverständlichen Haß gegen ihr Gastland sowie die verständliche Verbitterung darüber legt sie dem klugen und handfesten Inspektor Vianello in den Mund. Der Zusammenprall der beiden Welten Bürger und Polizei/Zigeuner ist in seiner Undurchsichtigkeit gut gezeichnet.

Auch in ihrem 17. Brunetti-Roman schafft es Donna Leon, die Züge ihrer Charaktere noch ein wenig zu vertiefen, aber auch abzumildern. Man mag dieses mittlerweile vertraute Personal, freut sich über jeden neu ausgeleuchteten Winkel seines Denkens und Fühlens. Sicher stehe ich nicht damit alleine, wenn ich eine ganz besondere Vorliebe für Vice-Questore Patta entwickelt habe, ein Vorzug, den die Romanfigur sicher nicht unerheblich der brillanten Film-Verkörperung durch den großartigen Michael Degen zu verdanken hat. Ihm widmet die Autorin dankenswert viel Sorgfalt. Signorina Elettra wirkt etwas differenzierter und distanzierter, auch Brunettis Kinder Raffi und Chiara kommen wieder vor, auch ihnen wurde in den früheren Verfilmungen das richtige Gesicht gegeben.

Doch auch dieses Mal wieder hat Donna Leon
Handlungsfäden zu spinnen begonnen, die nicht konsequent zu Ende gedacht wurden - ich denke dabei an den Schachzug Donna Leons, Alvise und Scarpa dadurch aus der Handlung herauszuhalten, indem ihnen ein Spezialauftrag erteilt wird, über den und dessen Entwicklung der Leser nichts erfährt. Hier hätte sich ein wunderbarer Konflikt entwickeln können. Auch die Geschichte um den geldhungrigen Prediger Leonardo Mutti, mit der Leon die Figur des Pater Antonin einführt, bleibt unbefriedigend ausgearbeitet. Was allerdings zum ersten Mal recht explizit erwähnt wird, ist der Umstand, daß nicht nur die Dunkelmänner und die Mächtigen (was bei Leon meist auf das selbe hinaus läuft) ihre Netzwerke haben, sondern auch Brunetti. Er findet bei den Carabinieri einen Geistesverwandten und man erfährt von besten Beziehungen zu Führungsoffizieren bei anderen Polizeibehörden und bei der Guardia di Finanza. Das beruhigt irgendwie, hilft aber beim Kampf gegen die Krake des bis in höchste politische Kreise reichenden Filz nicht wirklich.

Der routinierte Roman liest sich dank der bewährten Übersetzung Christa Seibickes in einem Rutsch, man fühlt sich in Venedig zu Hause, doch das Feuer früherer "Brunettis" flackert nur selten auf. Hier könnten für das von Donna Leon sorgfältig gezeichnete noch recht junge Ermittler-Gespann Brunetti/Vianello erstklassige neue Kriminalromane der Kategorie "Who done it?" entstehen. Über einen Mangel an Stoff wird die Autorin gewiß nicht zu klagen haben. Italien ist anscheinend eine Fundgrube - auch für Alpträume.

Beispielbild

Donna Leon
Das Mädchen seiner Träume

Roman

Aus dem Amerikanischen von Christa E. Seibicke

© 2009
Diogenes Verlag

351 Seiten, Leinen mit Schutzumschlag
21,90 € (D), 22,60 € (A)

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