Über eine Anzeige

von Erwin Grosche

Foto © Harald Morsch
Über eine Anzeige
 
Es regnete draußen wieder in Strömen. Es hatte die ganze Zeit nach Regen ausgesehen, aber eine gewisse Kraftlo­sigkeit hatte ihn sich weigern lassen, daran zu glauben. Nun regnete es Bindfäden. Herr Wislowski hatte natürlich keinen Schirm dabei. Die Menschen hier sind nicht ver­wöhnt und klug im Verdrängen des Unangenehmen. Herr Wislowski flüchtete in den Eingang des Kopierladens. Die Tür stand offen, und er grüßte wortlos nach innen. Schnell kam er mit einem Blick in den Himmel der Frage zuvor, ob er etwas kaufen wolle. Gottes Land hatte alle Farben aus sich verbannt und schien nicht mehr zu warten auf die dun­kelblaue Phase eines depressiven Malers. Ein dunkelblauer Himmel hätte allen gut getan.
Herr Wislowski kannte die Kopiererin noch aus der Zeit, wo er in der kleinen Stadt zur Schule gegangen war. Sie wa­ren zusammen alt geworden, ohne es zu merken. Er hatte bei ihr schon manche Nachmittage verbracht und Einla­dungen zu Sommerparties kopiert, die früher regelmäßig stattfanden. Warum feierten sie diese Parties nicht mehr? Er selber war schon seit Jahren auf keiner Party mehr er­schienen und haßte diese schon, als sie noch Feten hießen und nur betrunken zu ertragen waren, aber fehlen taten sie ihm trotzdem.
Herr Wislowski folgte der Einladung der Kopiererin ein­zutreten. Er dachte, daß die Kopiererin nun selbst eine Kopie geworden war. Sie war stark geschminkt, und man traute sich nicht, ihr zu nahe zu kommen und sie zu lange anzuschauen. Herr Wislowski konnte sich erinnern, daß er sich bei einer Einladung zu seinem 40. Geburtstag selbst kopiert hatte. Er hatte sich unter die Gummiabde­ckung auf das Kopierglas gelegt und die Kopiererin hatte lachend den Kopiervorgang ausgelöst. Er sah dann auf der Einladung aus wie tot, als hätte ihn jemand schnell fotogra­fiert, nachdem ihn einer in eine viel zu enge Kiste gestopft hatte.
Das Telefon schrillte durch den Raum. Die Kopiererin, die bisher neben ihm gestanden hatte, um mit ihm schwei­gend durch das Schaufenster in den Regen zu starren, hob das Telefon auf die Ladentheke und nahm ab.
»Copyshop, Stratmann. Womit kann ich dienen? Einen Moment, da muß ich nachsehen.«
Die Kopiererin klemmte sich den Hörer zwischen Kopf und Schulter und blätterte eine Kartei mit Kundenaufträ­gen durch.
»Ja, Frau Schigulla. Hier hab' ich Ihren Auftrag: Tobi ist da! Hiermit geben wir die Geburt eines gesunden Jungen bekannt. Wir sind alle sehr glücklich. Tina, Uwe und Gerda Schigulla.«
Herr Wislowski schaute die Kopiererin an, die gleichgül­tig zurückschaute und dabei der Stimme am anderen Ende der Leitung lauschte.
»Das ist kein Problem, Frau Schigulla. Das geht. Das können wir streichen. Gesund soll also weg. Nein, das geht noch.«
Die Kopiererin strich etwas auf der Karteikarte durch und sprach dabei weiter: »Ich lese noch einmal vor. Tobi ist da! Hiermit geben wir die Geburt eines Jungen be­kannt. Wir sind alle sehr glücklich. Tina, Uwe und Gerda Schigulla. O.k., Frau Schigulla, so machen wir das. Kein Problem. Auf Wiederhören.«
Die Kopiererin legte auf, stellte das Telefon nach un­ten, ordnete die Karteikarte wieder ein und stellte sich neben Herrn Wislowski. Der Regen machte eine Pause. Herr Wislowski und die Kopiererin schauten weiterhin nach draußen.
Viele der Vorbeieilenden hatten noch ihre Regenschirme aufgespannt, weil sie nicht bemerkt hatten, daß der Re­gen aufgehört hatte. Plötzlich sagte die Kopiererin: »Es gibt kein schlechtes Wetter, es gibt nur falsche Wetterklei­dung.«
Herr Wislowski überlegte, wie oft er heute diesen Satz schon gehört hatte, und lächelte trotzdem. Er hätte sich gerne kopiert. Er hätte sich gerne auf die Glasscheibe ge­legt, die Augen geschlossen, den Blitz empfangen und ge­wartet, bis der Automat sein gepreßtes und gedemütigtes Bild ausgeschoben hätte.
Herr Wislowski trat hinaus auf den Bürgersteig unter den farblosen Himmel und atmete tief ein.


©
Erwin Grosche - Aus dem "Warmduscher-Report" - 2003 Ardey Verlag
Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Autors
Redaktion: Frank Becker