Riccardo Muti dirigiert in der Scala

"Manon Lescaut", "Don Pasquale" und "Dialogues des Carmélites" - angehört und angeschaut

von Peter Bilsing
Opera Exclusive:
Die Scala Gold Box 3
(3 DVDs)
 

Es sind drei Aufnahmen, die allein schon wegen des Gesamtpreises von rund 50 Euro ein günstiges Angebot darstellen. Eigentlich eine Hommage an den großen Dirigenten Riccardo Muti, weil hier gezeigt wird, daß er doch nicht so Repertoire-einseitig ist, wie man ihm gelegentlich vorwirft. Dazu: große Sänger und ein Scala-Orchester aus verschiedenen künstlerischen Perspektiven betrachtet. Immerhin zeigen die Produktionen neben dem Antiquarischen auch endlich den Aufbruch zum Musiktheater, der sich im November 2008 mit Chereaus genialem „Tristan“ dann wohl auch gesamt-repertoiremäßig realisiert hat. Doch ist der „Muff von tausend Jahren“ nicht auch etwas, welches dem Begriff „Oper“ so vielseitig repräsentiert? Vieles ist wirklich hoch unterhaltsam. Alle drei Aufnahmen liegen in separaten Kassetten und haben kleine Beilagenhefte. Gesamtspieldauer 413 Minuten / Produktion 2009.
 
 
„Don Pasquale“ (Scala live, 1994)
Klangschönes Scheitern an der Schwere der Leichtigkeit des Seins
 
Dem Prinzip der altgriechischen Aufführungspraxis, daß auf zwei Dramen immer etwas Fröhliches folgen mußte, wird auch hier gehuldigt. Fangen wir also mit Donizettis „Don Pasquale“ an. Die
Scheibe kann man heute als eine Form von Wiedergutmachung an alle modernen Regietheater-Geschädigten sehen. Die Behauptung, hier fände keine Regie statt, ist schlicht falsch; Donizetti ist der Regisseur und Susanna Rossi Jost arrangiert alles genauso, wie es im Opernführer resp. der Partitur geschrieben steht. Sehr bunt und unterhaltsam. Das richtige für Opernfreunde, die sich nach des Tages getaner schwerer Arbeit einfach nur unterhalten lassen wollen. Fröhliche Klamotte zum Entspannen und Abschalten. Kein Regiefirlefanz, keine Spielchen oder Verfremdungen – Oper pur. Die Produktion könnte auch aus der Nachkriegszeit stammen, aber das muß ja nichts schlechtes sein. Kurzeindruck was haften bleibt:
 
Ferruccio Furlanetto ist ein reizender Pasquale, zu reizend. Sein gutaussehender Neffe, Gregory Kunde, ein Tenor der wirklich aufhorchen läßt. Lucio Gallo (Malatesta) fuchtelt unentwegt ganz entsetzlich mit den Armen, daß man in jeder Sekunde erwartet, er würde gleich die große Barbierarie von Rossini singen. Und Norina (Nuccia Focile) so gemein zickig. Insgesamt haben sich alle aber besonders lieb, egal auf welcher Seite man steht, nimmt die Schulterklopferei kein Ende. Das ist eine schöne Welt, trotz aller Intrigen!
Die Kameraführung arbeitet streng nach dem Prinzip einer Eishockeyübertragung: Der Puck ist immer im Bild. Ein Bild, welches sich in Grenzen hält, aber der 5.1. Sound ist enorm. Muti dirigiert für meine Ohren mehr Wagner als Donizetti, denn es fehlt die Luftigkeit und Leichtigkeit des Werkes. Dafür erhielt er am Ende ein paar guthörbare Buhs – Anmerkung: Nicht vor mir, denn ich war an dem Abend nicht da! Ehrlich.
Der Clou der Scheibe ist allerdings ein kurzer Moment für die Ewigkeit, nämlich nach der Ouvertüre, wo der Maestro nach meiner Erinnerung zum ersten Mal strahlend lächelt. Das ist auch den Produzenten aufgefallen, und so gibt es am Ende einen Slapstickdurchlauf zur Ouvertüre der Oper, der justament mit dem jetzt auf immer technisch eingefrorenen fröhlichen Gesicht Mutis endet. Was für eine nette Bild-Hommage. Ein unvergleichliches Zeitdokument!
 
 
„Dialogues des Carmélites“ (Theatro degli Arcimboldi, 2004)
Bilder, die sich einbrennen
 
Zu den ungeheuerlichsten Opernfinali zählt der Schluß von Francis Poulencs Meisterwerk „Dialogues des Carmélites“ nach Georges Bernanos Drama „Die begnadete Angst“ (1951) zurückgehend auf
Gertrud von Le Forts „Der letzte am Schafott“(1931). Wenn der „Salve regina“-Chor der verurteilten 15 Nonnen durch das mörderische Geräusch des sirrenden Fallbeils sukzessive mit jedem einzelnen Protagonisten erstirbt, läßt eine wirklich grausig in Musik gesetzte Szene den Zuschauer erschüttert zurück. Das Stück gehört zu den wenigen großen Werken, bei denen auch der unsensibelste Zuhörer erst einmal betreten schweigt, bevor der finale Akklamationszirkus losgeht. Bei der letzten beeindruckenden Aufführung am Essener Aalto, die ich hörte, herrschte nach den Schlußtakten fast eine Minute würdiges und anerkennend betretenes tränenreiches Schweigen. Es gibt sicherlich keine vergleichbar beeindruckende Passage in einer anderen Oper.
 
Diese vorzügliche und Maßstäbe setzende Live-Aufnahme wurde im „Teatro degli Arcimboldi“ (nicht in der Scala!) aufgezeichnet. In jenem modernen Opernhaus in Mailand, welches um dem gestiegenen Kulturbedarf Rechnung zu tragen und als Ersatzspielstätte für die Zeit der Rekonstruktion der Mailänder Scala im Januar 2002 eröffnet wurde und das seitdem einen festen Platz im Mailänder Musikgeschehen hat.
 
Ich kann Ihnen diese DVD zu 100 Prozent ohne irgendwelche Kritikpunkte an Herz legen. Wunderbare filmische Bildregie von den professionellen RAI-Fachleuten (Carlo Battistoni) und eine Besetzungsliste, die jeden Wunschtraum überbietet. Obwohl die Produktion vom sich sehr zurückhaltenden Regisseur Robert Carsen schon 2000 in Amsterdam zu sehen war, erstrahlt sie in neuer Frische, und schließt bis dato sogar einen historischen Aufführungskreis, denn es war 1957 gerade die Mailänder Scala, welche das Werk uraufgeführt und auch zu internationalem Ruhm gebracht hat. Ein würdiger Uraufführungsort für eine Oper, die damals immerhin Verdi, Monteverdi, Debussy und Musorgski gewidmet war.
 
Für mich eine der besten Muti-Aufnahme überhaupt (nicht nur in diesem Paket), vielleicht sollte er öfter im Anzug statt im Frack dirigieren. Und welch grandiose Besetzung, angefangen von der „Grand Dame der Oper“ Anja Silja (Priorin) über eine fabulöse Dagmar Schellenberger als „Blanche“, und Barbara Dever singt wirklich die Inkarnation der Klostermutter Marie. Auch alle weiteren Rollen sind makellos besetzt.
 
Bild und 5.1. Ton sind fabelhaft und einer heutigen DVD-Aufnahme würdig. Der absolute Höhepunkt in dieser Dreierbox. Da die Scheibe alleine auf dem Markt selten unter 40 Euro angeboten wird, spreche ich meine Empfehlung: „unbedingt kaufen, diese Box“ schon jetzt aus, bevor ich überhaupt Manon gesehen habe. Die anderen Opern verschenken Sie notfalls an Ihre Schwiegereltern – wäre dann ein opulentes Geschenk für wenig Geld.
 
 
„Manon Lescaut“ (Live a la Scala 1998)
Am Ende ein nervenaufreibendes Puccini-Gefühl
 
Die Freunde musealer Aufführungspraxis und historischer Kostümvielfalt werden entzückt sein über die Wiederveröffentlichung dieser DVD von 1998. Ausstatterin Diana Cavani (Kostüme: Gabriella Pesccuci, Bühne: Dante Ferretti) arbeitet in einem realistisches Dekor exakt im vom Komponisten vorgegebenen Ambiente: die „zweite Hälfte des 18.Jahrhunderts“. Das sollte für alle Opernfreunde,
die sich vom modernen Musiktheater unserer Tage geschädigt fühlen, schon allein Grund genug sein, diese Scheibe heuer zu erwerben. Außerdem wird exzellent gesungen, und die Produktion zeigt einen der großen heutigen Superstars, José Cura, am Anfang seiner Karriere. Ganz Mailand lag ihm damals zu Füßen. Insoweit ist es auch ein schon historisches Dokument. Cura hat die Partie bis jetzt niemals besser gesungen. Eine kurze Chronologie im Rahmen der Akte:
 
Im ersten Akt herrschen buntes Treiben, flauschig schöne Kostüme, reale Postkutschen-Romantik Bühne viel Styropor und Holz; Es sollte halt alles historisch echt wirken: Reale Postkutschen, die typischen Scala-Säulen (an die man sich immer und jederzeit prima anlehnen kann) Holzbänke, Koffer, es gibt sogar Stickerinnen in diesem Bahnhof; sie arbeiten zu acht an einem großen Tischtuch, dabei kann man prima singen. Viel Arbeit steckt sichtbar in den Perücken aller Mitwirkenden. Museale Theatralik bar jeder Natürlichkeit. Alle agieren, als wenn sie in Taubstummensprache noch zusätzlich reden müßten. Man geht nicht, man schreitet; wichtige Mannbilder treten immer wieder mit vor der Brust verschränkten Armen und zurückgeworfenen Kopf auf; persönliche Ansprache bedeutet es, dem Freund die Hände auf die Oberarme zu legen und ihm tief in die Augen zu schauen – halt die üblichen Verdächtigen… Na wenigstens starrt keiner permanent in die zentrale Kamera. Cura singt sein „donna non vidi mai“ herzerfrischend schön – dabei schaut er ständig wechselnd auf die brav am Boden sitzende Manon oder in den Himmel der Off-Monitore, die anscheinend in der Scala recht hoch hängen. Mangels alternativer Aufnahmepositionen konnte man es kaum wegschneiden. Es ist wie bei der Übertragung eines Fußballspiels, die Kamera ist immer am Ball. Dafür ist die zweite Kameraperspektive, der Orchestergraben, während der Vorspiele und Intermezzi aus mindestens fünf Winkeln zu sehen.
 
Die Tanzmeisterszene im 2.Akt könnte als perfektes Lehrmaterial fürs Opernregie-Fach dienen. Sie hat ein dermaßen unfreiwillig schmierenkomödiantisches Humorpotential, ständig an ungewollten Slapstick erinnernd, daß es schon sehr erheiternd wirkt, obwohl die Produktion gerade einmal 10 Jahre alt ist. Das schöne am italienischen Publikum ist immer noch, daß selbst Unkundige durch die Lautstärke der rüde unterbrechenden „Bravi!“-Akklamationen über den künstlerischen Wert des gerade Gesungenem spontane und meist korrekte Rückmeldung bekommen. Sic! Im Gegensatz zu selbigem in Deutschland, hier wird leider heutzutage erbarmungslos alles differenzierungslos beklatscht, selbst im holden Bayreuth, wie ich gerade wieder feststellen konnte.
 
Warum nur wirkt Muti immer so blasiert und arrogant? Er kann sich einfach nicht freuen. Wie der selige Carlos Kleiber sieht er ständig gehetzt aus; auch beim großen Schlußbeifall nicht der Ansatz eines Lächelns. Im Prinzip soll uns das egal sein, musiziert er doch mit den Scala-Mannen diesen Puccini perfekt, fern jeder Kritik. Man kann sich, und gerade im realistischen Dolby-digital (klingt seltsamerweise besser als DTS) der Musik nicht entziehen. Sie hat immer das nötige Feuer bei allem nötigen Sentiment und Rubato, mit gelegentlicher Neigung zur Überfettung. Dennoch ist Muti kein Gianandrea Gavazzeni (man höre sich die „Feodora“-Aufnahme bei TDK an!). Aber vielleicht wird er es noch mit der nötigen Altersweisheit.
 
Das Bühnenbild des dritten Aktes ist imponierend, man hat die halbe Bounty in handwerklicher Präzisionsarbeit und Originalgröße auf die Bühne gestellt. Alle Achtung, es sieht aus, wie direkt aus Hollywood eingeflogen. „Tu amore…amore“ jetzt sind wir sicher, die richtige DVD gekauft zu haben. Da ist es, das wunderbare Piano und die Frische dieses noch jungen und unverbraucht klingenden Sängerpaares Guleghina & Cura. Cura ist nicht der große Brüller, sondern erweist sich als ein angenehmer Sänger, der sein Vermögen gut und intelligent einzuschätzen weiß, wenn er nur nicht immer so penetrant nach oben schauen würde…
 
Immerhin sind die gefangenen und geschundenen zu deportierenden Frauen allesamt noch tadellos im Makeup, darstellerisch einsame Klasse! Hier fängt nun Oper als Musiktheater an –– ich habe mir die Szene gleich dreimal hintereinander angeschaut, weil sie so gelungen ist. Und immer bleibt die permanente Frage: Warum nur fährt die Kamera nicht endlich einmal in die Totale? Es scheint geradezu eine Strafe für den DVD-Zuschauer zu sein: Du warst nicht da, also darfst Du auch nicht alles sehen. Beim „vi pigliate il mio sangue, la vita“ geht dem Puccini-Fan das Herz auf. Auch Muti steigt dermaßen in die Vollen, daß der Puls auf 180 zugeht… so muß Puccini klingen. Doch bis hier hin hat es immerhin 140 Minuten gebraucht. Dank an die Bildregie, daß man wenigstens drei Sekunden vorm Fallen des Vorhangs endlich mal aufzoomt.
 
Wenn der Vorhang zum vierten Akt aufgeht, ist die Spannungskurve sofort auf dem Zenit und wird nicht mehr abreißen. Da ist sie endlich auch einmal, die lange erwartete Totale der Kamera. Wann wagt es endlich mal ein Maskenverantwortlicher, den geschundenen Verfolgten alles schöne Makeup zu entfernen? Allein wegen des vierten Aktes lohnt sich diese Silberscheibe. Es wird unisono göttlich gesungen, und auf der leeren steinigen Bühne stört kein museales Gerümpel mehr die Optik. Wir sterben mit den Protagonisten in teuflisch schönen Pucchini-Wogen, welche das zweite Intermezzo brillant einleitet. Das Finale läßt die vorherigen drei Museumsakte vergessen. Endlich zoomt auch die Kamera auf, und läßt uns die wüste Einsamkeit mit dem grandiosen Sonnenuntergang fast räumlich miterleben. Aber warum nun der schnelle und ruckartige Schnitt auf die verdurstende Manon? Das tut in der Seele weh! Wie viel schöner wäre es gewesen, und auch zur Musik passender, hätte man langsam auf die am Boden liegende gezoomt. Kameraarbeit ohne Musikgefühl. „Sola perduta, abbandonata“ - hier sind dann Bild und Musik eins und keinen reut es mehr, nicht live an dem Abend dabei gewesen zu sein. Wunderbares Seitenlicht bei der Nahaufnahme. So muß Oper auf DVD aufgenommen werden!
 
Von kaum einer Oper gibt es so viele Aufnahmen. Und neben der aktuellen Netrebko/Villazon Scheibe kann diese Aufnahme schon lange bestehen. Schauen sie sich aber bitte zuerst den vierten Akt an und starten dann die Oper noch einmal, nicht nur wegen des nervenaufreibenden Puccini-Gefühls, welches sich sonst erst allzu spät einstellt, sondern auch zur besseren Beantwortung der Frage, warum man diese DVD anschauen sollte.

Weitere Informationen unter: http://label2.arthaus-musik.com/

Redaktion: Frank Becker