Stehcafé am Donnerstagmorgen

und anschließende Mißverständnisse

von Karl Otto Mühl

Foto © Thomas Max Müller / Pixelio
Donnerstagmorgen

Stehcafé
und anschließende Mißverständnisse
 
 
Heute ist es böig. Die jähzornigen Windstöße fegen über den Parcours, der ein Höhenweg ist, sie raufen den grünen Haarschopf des Waldes. Auch das grüne Gesträuchdickicht duckt sich, in kleinen Lichtungen hat sich blinkendes Wasser gesammelt. Es ist nicht verwunderlich, daß bei diesem Wetter nicht viele Läufer und Walker zu sehen sind, zumal Werktag ist. 
 
Ich versichere mir, daß niemand mich zwingt, mich zu überanstrengen oder einen sportlichen Eindruck zu machen, laufe langsamer durch das Spalier der braunen, schlanken Stämme rechts und links von mir, denke flüchtig darüber nach, ob sich der Wald der verstorbenen Läufer, die er jahrelang beobachtet hat, erinnert, und überhaupt, wie jetzt das Verhältnis der beiden Gruppen zueinander sein mag. Und wie der Wald zurecht kommen wird, wenn ich einmal nicht mehr laufen werde –
Ich weiß nur, daß du immer von Angst erfüllt warst, wird der Wald zu den meisten sagen, daß du aus der Welt fallen könntest. Diese Spekulation hat viel für sich, denke ich.
 
Da ist es in der Bäckerei schon anheimelnder und tröstlicher. Der Trost kommt von Kaffee und Brötchen, den ersehnten Freudenbringern des Morgens. So empfinden es sicherlich auch die einzelnen Kaffeegäste, die nacheinander erscheinen und neben mir, oder am kleinen Rundtisch, oder draußen vor dem Schaufenster trotz Wind und einzelnen Regentropfen, in ihre Zeitungen hineintauchen. Weiterer Trost kommt vom höflichen Nachfragen der Bäckerin nach meinen Bedürfnissen, zwei halbe oder geklappt, den Leberkäse warm oder kalt? Hier weiß man, daß ein Mann umsorgt werden muß. Fürsorge, die dennoch mit Höflichkeit und Diskretion gepaart ist – niemand fragt, ob man dick oder dünn ist, mit dem Rauchen kämpft oder schon gesiegt hat, eine Frau hat oder nicht, beim Essen zurückhaltend sein muß oder nicht, und wenn, warum. Im Gegenteil, hier wächst ständig das Gefühl, richtig zu sein, ja, vorbildlich, und im übrigen alles richtig zu machen. Diese Menschen, die uns zum wahren Menschsein verhelfen, werden viel zu schlecht bezahlt, denke ich.
 
Der Tag setzt sich fort in Schwimmbad und Sauna. Auch hier sind mir weitere Freuden versprochen. Ich erinnere mich an einen freundlichen, fettleibigen Saunagenossen, der sich im Schwitzraum niederließ und sagte: „Das ist der schönste Augenblick der Woche. Hier bin ich glücklich. An nix denken.“
Zunächst gehe ich heute nach unten zum Schwimmbecken, um mein Sport-Pensum zu absolvieren. Ein jüngerer Mann mit offenem, freundlichen Gesichtsausdruck streckt mir die Hand entgegen – rechtzeitig fällt es mir ein, ich kenne ihn vom Saunieren  -
 
„Tag, Viktor“, sage ich erfreut. Ich weiß, er ist aus Kasachstan, arbeitet irgendwo in der Produktion. Man kennt diese Leute aus den slawischen Ländern. Ich weiß nur, daß fast alle ständig rauchen, auch die Frauen. „Sie rauchen doch?“
„Ein bißchen“, sagt er. Ich warne ihn, sich hier nicht gleich zu überanstrengen. Raucher sind gefährdet. Er stimmt mir zu.
 
Es gibt eine Überraschung. Er hechtet er ins Becken, und ich muß sagen, noch nie sah ich hier im Bad einen so kraftvollen, souveränen Schwimmer. In Sekundenschnelle hat Viktor das Becken im Schmetterlingsstil durchmessen, und genau so schnell fegt er zurück, diesmal kraulend.
Vielleicht raucht er doch nicht so viel, denke ich.
Ja, in Kasachstan habe er an Wettkämpfen teilgenommen. Ein bißchen, sagt er bescheiden.
Man sieht es ihm an. Er ist geformt wie eine Statue aus dem alten Griechenland.
„Toll“sage ich, „toll, daß Sie das alles noch leisten, neben Ihrer schweren Arbeit. Hat man selten, dass jemand dabei noch Sport treibt.“
So schwer sei die Arbeit nicht, sagt er. So eine Stunde Sport täglich müsse er einfach haben. Er sei so komisch.
Aha. Ich werde unsicher. „Ihre Frau arbeitet sicher nicht? Schon wegen der Kinder.“ frage ich. Diese Leute haben zuhause eine Frau, die diese Weißkohlsuppe kocht, ich glaube Borsch heißt die, und um die herum sich die vielen Kinder auf dem Boden wälzen.
 
Einen Sohn habe er. Aber der weiß sich schon zu helfen. Seine Frau sei beim Ballett.
Wo? In der Schneiderei? Oder bei der Reinigungskolonne?
Nein, sie tanzt. Hat sie schon immer gern gemacht. Die brauchten sie auch hier beim Ballett.
Aha.
Jetzt muß ich nur noch erfahren, wie und wo Viktor haust. Eine Wohnung hat er sicher. Diese Leute bekommen ja gleich bei ihrer Ankunft eine Drei-Zimmerwohnung mit Gästetoilette.
Da und da wohne er, sagt Viktor. Ist ein bißchen weit bis zu seiner Firma. Und natürlich manchmal unruhig. Aber da hat er eine Lösung gefunden.
„Ein gebrauchtes Auto?“
Sicher, ein Auto. Nein, er meine es anders. Hier, gegenüber habe er ein kleines Appartement, in das er sich manchmal zurückziehe. Abends, oder auch manchmal für einen Tag.
 
Aha. Das ist es. Fremdgegangen, zerrüttete Ehe, Schnaps.
 
„Das war sicher eine schwere Zeit für Sie und Ihre Frau“, sage ich. „Wenn alles in die Brüche geht. Man sitzt abends herum, trinkt – trinkt noch einen...“
Nein, nein. Er arbeite da, nur ein bißchen selbst verständlich, er lese, schreibe –
 
„So technisches Zeug?“
„Ja, auch das. Aber auch anderes.“ 
„Anderes? Was denn?“
„Alles Mögliche.“
„Kann ich mir nicht vorstellen.“
Er grinst verlegen. „Manchmal auch Gedichte.“
 
Diesmal denke ich nicht einmal Aha. Ich mache einen letzten Versuch, den Mann zu entlarven. „Und was sagt Ihre  Frau dazu?“
Die benutze das Appartement auch manchmal. Sie brauchten beide manchmal das
Alleinsein.
In Kasachstan muß es furchtbar sein, denke ich. Wenn die Menschen zu solchen Mitteln greifen.



© Karl Otto Mühl - Erstveröffentlichung in den Musenblättern 2009
Redaktion: Frank Becker