Jean Baudrillard - "Warum ist nicht alles schon verschwunden?"

Ein Essay zu Baudrillards Vermächtnis

von Andreas Steffens
Vom Aufschieben des Verschwindens
Jean Baudrillards Vermächtnis
 
 
Ihn beim Wort nehmend, war es unmöglich, von Baudrillard zu sprechen, solange er lebte; nun, da er nicht mehr lebt, ist das Unmögliche unvermeidlich geworden: seine Theorie mit dem letzten vitalen Akt des eigenen Endens bezeugend, ist sie durch Bestätigung widerlegt.
Für den Theoretiker des ‚Verschwindens’ bedeutet der Eintritt des eigenen Todes ein zusätzliches Verhängnis: das Werk seines Lebens gerät mit ihm in Widerspruch zu dieser ‚ewigen Gegenwart’ des Gewesenen. Der Sinn seines Werkes unterwirft sein Leben einer Beschleunigung des leiblich ebenso wie kulturell unausweichlichen Verschwindens. Sein eigenes schnellstmögliches Verschwinden aus dem Bewußtsein wäre der größte mögliche Beleg seiner Theorie.
Die Gesetze des Verschwindens durchschaut zu haben, muß nach dem letzten Erstaunen, „warum noch nicht alles verschwunden ist“, ein allerletztes nach sich ziehen: warum man selbst noch da ist. Die Unwahrscheinlichkeit des Daseins, diese Basis allen Nachdenkens, macht es zur größten Wahrscheinlichkeit, nicht lange da zu sein. So gewiß, daß jeder Tag, der einen noch unter den Lebenden findet, eine Überraschung sein muß.
Das vulgäre Leben setzt seinen Ehrgeiz deshalb darein, möglichst lange da zu sein; das geistige, lange genug da zu sein, um verstanden zu haben, was sich damit begab, daß man zu sein begann.
Der Theoretiker des Verschwindens ist aus seinem und dem gemeinsamen Leben verschwunden; seine Theorie des Verschwindens ist anwesend geblieben.
Das Verschwinden des Theoretikers des Verschwindens erzwingt eine neue Aufmerksamkeit für das Erscheinen: in seinem Falle für das Erscheinen eines Sinnes hinter dem Sinn des Verschwindens.
Daß nicht ‚wirklich’ ist, was da ist, wird nach dem Ende dessen, der es dachte, zum Beleg dafür, daß es der Sinn des Daseins im Unwirklichen ist, gewesen zu sein. Der Sinn des Nichtseins des Daseins ist das Gewesensein. Der Tod macht so wirklich, wie das Leben, das unter seinem Gesetz steht, nicht sein kann. Erst was war, kann sein. Das Sein liegt jenseits des Daseins.
 
Gegen diesen Gedanken muß sich alles in einem auflehnen, was das Denken ans Leben bindet. Er bezeugt die Unzumutbarkeit der Wahrheit ebenso wie die Unvermeidlichkeit, sie herauszubringen.
Enden muß nicht Verschwinden bedeuten. Aber jedes Verschwinden ist ein Enden, sofern ihm keine Wiederkehr folgen kann. Was mit dem Tod endet, ist deshalb zum Verschwinden verurteilt. Nur, was stirbt, kann verschwinden. Was sterben muß, kann nicht anders, als eines Tages spurlos zu verschwinden.
Heideggers kleinmütige Resignation des heroischen Nihilismus anverwandelnd, das Dasein vom Tod her zu denken, dem es überantwortet ist, mußten die Denker der Pseudoepoche ‚Postmoderne’, der Zeit, die sich im Furor des Beendens finden wollte, zu Theoretikern des Verschwindens werden. Und ihrer Zeit verlustig gehen, sobald diese selbst sich zu einem Beenden dessen entschloß, was die Theorien der Geschichtslosigkeit provoziert hatte.
Als die ‚Epoche’ noch keinen Namen hatte, bezeichnete Roland Barthes in seiner Semiologie des Mythos 1956 die Drohung, ‚das Wirkliche zum Verschwinden zu bringen’, als ihre ‚Schwierigkeit’. Diese ‚Schwierigkeit’ wurde die bis heute unabgelöst gebliebene Hypothek der in die Ästhetik übergegangenen Ideologiekritik.
Das Verschwinden des Seins in seinen Repräsentanten wurde für Jean Baudrillard zum Lebensthema. Wenn nichts, was ist, zu unbestimmter Dauer fähig ist, kann nichts, was ist, wirklich sein. Die Idee der Wirklichkeit ist eine Illusion des sterblichen Wesens.
Unbezweifelbar, ist diese Wahrheit des Lebens eine der Einsichten, die es nicht kennen darf. Entsprechend feindselig waren die Reaktionen auf den, der nicht nachließ, sie auszusprechen. Er meinte es zu ernst mit dem Seinsunernst des Daseins, als daß sein Denken ernst genommen werden konnte. Was als geistreicher Essay noch durchgegangen wäre, mußte als seriöse Theorie feindseligste Mißachtung finden. Nach den Politiken des Todes mußte eine Metaphysik des Todes, die mit ihm und seinem Werk der ununterbrochenen Daseinszerstörung ernst macht, schlechthin unzumutbar sein. Die schlechte Botschaft mußte ihrem Boten schlecht bekommen.
Auf jedes Verschwinden aber folgt ein Erscheinen: das Verschwundene, dessen Anwesenheit im Sein als Dasein ungreifbar war, verwandelt sich zum Gewesenen, das bestimmbar wird. Der Tod realisiert, was sich lebend unwahrscheinlich bleiben muß. Das Dasein, das mit dem Eintritt des Todes keine Zukunft mehr hat, an sich nichts mehr wird verändern können, kristallisiert zu einer ‚ewigen’ Gegenwart des Gewesenseins, die solange andauern wird, wie dieses Leben in Überlieferung und Bewusstsein der Mit- und Nachlebenden bemerkbar bleibt.
Der Eintritt des Todes fixiert das Leben, dem er geschieht, zu unverrückbarer Abgeschlossenheit. Deshalb gibt es die Neugier auf ‚letzte Worte’, in denen man nach dem prägnanten Ausdruck der Eigenart dieses nun Abgeschlossnen sucht.
Baudrillard hat vorgesorgt. Sein ‚letztes Wort’ pointiert noch einmal den Ertrag seines Denklebens in der Frage „Warum ist nicht alles schon verschwunden?“ Als sein allerletztes Wort hebt die Antwort auf diese Frage die Voraussetzung des in ihr bezeichneten Erstaunens auf: Das Ende selbst ist verschwunden... . Die Ironie ist der Umweg, zu stärken, dessen Schwäche zu erfahren sie auf sich zieht.
 
Ein Philosoph sollte sich nicht eher zu sterben gestatten, bis er auf fünfzig Seiten zusammengefaßt hat, was er als Summe seiner Denklebenserfahrung zu sagen hat. Und er sollte es nicht eher unternehmen, als bis daß die Fälligkeit eines Vermächtnisses ihm zur Gewißheit wurde. Das könnte die Unzumutbarkeit der Kontingenz des eigenen Endes, die die Unzumutbarkeit des Endenmüssens noch einmal steigert, mildern. Mit einem nicht zufällig durch erzwungenes Verstummen zustande gekommenen letzten Wort wird das eigene Ende zwar nicht zumutbar, doch dem eigenen Leben zugeeignet. Ist das Unzumutbarste am eigenen Tod doch die Enteignung des eigenen Lebens, die sein Eintritt an ihm vollzieht: was man gewesen ist, nicht mehr bestimmen zu können.
 
Jean Baudrillard – „Warum ist nicht alles schon verschwunden?“
Aus dem Französischen von Markus Sedlaczek,
64 Seiten, Klappenbroschur - ISBN 978-3-88221-720-9
€ 10,00 / CHF 19,00
 
Weitere Informationen unter: www.matthes-seitz-berlin.de

© Andreas Steffens - Erstveröffentlichung in den Musenblättern 2009
Redaktion: Frank Becker