Taiwan und China von innen

Jade Y. Chen - "Die Insel der Göttin"

von Frank Becker
Menschen und Götter

Man betet zu vielen Göttern in Taiwan, dessen etwa 23 Millionen Einwohner zu über 90 % Buddhisten, Taoisten und Konfuzianer sind. Man ist äußerst liberal, läßt alle Religionen nebeneinander gelten, ja sogar, wie z.B. im weltoffenen Longshan Tempel im Herzen Taipehs, unter einem Dach ihr Gebet verrichten. Hier vereinigt Religion die Menschen. Eine der wichtigen traditionellen Gottheiten ist Mazu, die Göttin der Meerenge zwischen dem chinesischen Festland und der Insel Taiwan. Ihr Einfluß ist noch heute groß, denn trotz aller westlichen Aufgeklärtheit des modernen Staates und der dynamischen technischen und wirtschaftlichen Entwicklung im Lande verläßt man sich gerne auf die hergebrachten Werte. Mit ihr, besser: mit einem Buch, in dem sie und ihre beiden Leibwächter „Hört wie der Wind so schnell“ und „Sieht tausend Stunden weit“ eine bedeutende Rolle spielen, begann vor wenigen Wochen meine Reise nach Taiwan.
 
Die in Taichung/Taiwan geborene, jetzt in Deutschland lebende Autorin und Regisseurin Jade Y. Chen gibt in ihrem autobiographischen Roman „Die Insel der Göttin“ Mazu einen angemessen wichtigen Platz. Am Beispiel und Schicksal ihrer eigenen Familie erzählt sie sehr dicht und hautnah die Geschichte Taiwans, von der japanischen Besetzung (1895-1945) bis zur heutigen „Republic of China“. Jade Y. Chen benutzt einen zunächst kompliziert wirkenden, letztlich aber brillanten Kunstgriff, indem sie die Geschichte aus dem Blickwinkel und der Zeit beinahe sämtlicher handelnden Personen dreier Generationen erzählt, was letztlich zu einem geradezu dreidimensionalen Bild führt. Sie protokolliert die Entwicklung der Schicksale ihrer teils vom Festland und von Okinawa stammenden, einst angesehenen Familie, zeigt den Fall ins gesellschaftliche Aus, läßt auch Not, Verzweiflung, häusliche Gewalt, Ehebruch, Kriminalität, Vernachlässigung der Kinder durch den Vater und die soziale Ausgrenzung nicht aus, die überwiegend die Frauen erdulden mußten.

In dem Inselstaat, der nach dem Abzug der Japaner 1945 und dem verlorenen chinesischen Bürgerkrieg von der Kuomintang unter Chiang Kai-shek 1949 als Fluchtburg vor der Roten Armee der Kommunisten unter Mao Tse-tung gegründet wurde, herrschten 40 Jahre diktatorische Verhältnisse. Auch diesen politischen Aspekt und die autoritäre Unterdrückung läßt Jade Y. Chen am Schicksal eines Onkels aufleuchten. Die Familienbande zum Festlandchina, die Verhältnisse dort und die späteren Versuche einer Rückkehr spielen ebenso eine Rolle wie die Suche nach den Ursachen der verhängnisvollen Entwicklung vor allem ihres Vaters, der als gewalttätig tragische Figur wesentlichen Anteil an der fatalen Entwicklung hat. Die Autorin hat es geschafft, einen Teil der Mauer des Schweigens abzutragen, die ihre Familiengeschichte umgab. Ihr sehr persönlicher, intimer Roman ist ein hervorragendes Prosawerk, zugleich aber auch ein Blick tief in die Geschichte eines Volkes, das nie richtig zu seiner Identität gefunden hat.

Ich kann jedem Reisenden, der Taiwan besuchen möchte, nur empfehlen, zuvor dieses Buch zu lesen. Er wird Land und Leute mit einem besseren Blick und tieferem Verständnis betrachten und erleben.

Beispielbild

Jade Y. Chen
Die Insel der Göttin

© 2008 Münchner Frühling Verlag

419 Seiten, geb. m. Schutzumschlag, 3 Abb., 1 Karte 

ISBN 978-3-940233-13-4

24,90 €

Weitere Informationen unter:
www.muenchnerfruehling.de