Half und verschwand

Eine Erzählung

von Karl Otto Mühl

Karl Otto Mühl - Foto © Frank Becker
Half und verschwand
 

Wir waren schon recht früh von unserem Ferienort im Bregenzer Wald abgefahren – mit letzten Blicken auf die beschneiten Gipfel -, denn wir wollten vor Abfahrt des Autoreisezuges noch in Lindau spazieren gehen und zu Mittag essen. Wir, das waren Markus und Eva, meine Frau und ich. Markus kenne ich schon lange. Wir wollten beide Lehrer werden, er studierte und wurde es, ich wandte mich dem Vertrieb von Straßenbaumaschinen zu. Aber wir sind immer Freunde geblieben, telefonierten mindesten einmal in der Woche miteinander, luden uns zu den Geburtstagen ein.
Der Winterurlaub war rasch vorbeigegangen. Markus und ich hatten manchmal abends zu zweit beim „Hirschen“ gesessen und Wein getrunken. Markus erzählte gerne, er hatte wahrscheinlich keine Geheimnisse vor mir, erzählte auch von kleinen Sünden, wobei er sich auf meine Diskretion verließ.
Und nun waren wir schon auf der Rückreise. In Lindau stellten wir unsere Autos auf einen der vielen riesigen Parkplätze, da der Autoreisezug erst in einigen Stunden beladen werden konnte. Aber wir bedauerten das nicht, hatten uns ohnehin schon einige Stunden Flanieren in Lindau gefreut. Da bummelten wir nun über die Hauptstraße, zwei Ehepaare, deren Kinder längst erwachsen waren.
 
Ich sah  mich um. Alles schien auf mich zuzustürmen, die Berge, die Gipfel in zarten Grautönen und die weißen Wolken am duftigblauen Himmel, das Touristentreiben in den Straßen; das Sprachlose schrie mich an, knospende Sträucher, zornig im Wind zuckende Äste, die besonnten und die schattigen barocken Häusergiebel, sie alle riefen mir zu, wie bewegt und schön dieser Tag war. Es schien ein besonderer  Tag zu werden, ein Tag mit Aufbruchsstimmung.
Wir hatten uns im Strome der Hunderte von Touristen, von denen die Stadt überfallen worden war, durch die Straßen treiben lassen, immer wieder an Schuhgeschäften und Uhrenläden gehalten, den Haltepunkten der Damen; aber schließlich gingen wir in ein Restaurant am Marktplatz essen. Meine Frau, Eva, aber auch Markus wollten vor Abfahrt immer noch Window-Shoppen, und wir vereinbarten darum, daß wir uns in etwa anderthalb Stunden  auf dem Parkplatz treffen würden, um dann zum Verladebahnhof zu fahren.
So hatte ich Gelegenheit, das zu tun, was ich mir am meisten wünschte, nämlich in der Mittagssonne einen Schoppen Rotwein zu trinken. Um einige Grade fröhlicher als vorher stand ich danach auf und machte einen Abschiedsspaziergang bis zur Spitze der Halbinsel, wo der Bahnhof liegt. Ich atmete die milde Luft ein, sah das bunte Besuchervolk mit und ohne Strohhüte an der Ufermauer stehen – alles ein Anblick wie Weißes Rössl mit Festmusik. Ich sah einige Wagen davor parken, möglicherweise gehörten sie Hotelgästen aus den umliegenden Hotels, oder es waren die Autos des Personals, auf jeden Fall würde man normalerweise hier nicht lange parken können. Dieser Eindruck war hauptsächlich schuld daran, daß sich die Dinge danach in einer bestimmten Richtung entwickelten.
 
Langsam ließ ich mich nun mit dem Menschenstrom auf der Hauptstraße aus der Stadt hinaustreiben, ging über eine Holzbrücke, und dann vielleicht noch hundert Meter weiter bis zum Eingang eines der großen Parkplätze, wo unsere Wagen stehen mußten.
Als ich auf die riesige Armee von bunten Blechdächern blickte, kam die Erinnerung an früheres langes Suchen nach Autos auf Riesenparkplätzen in mir hoch. Vor allem erinnerte ich mich daran, einmal in der Seitenstraße einer nordfranzösischen Stadt, wahrscheinlich war es Douai, geparkt zu haben. Ich glaube, ich verspürte bei dieser Erinnerung zum ersten Mal an diesem Tage Angst, daß es mir genau so gehen könnte.
In Douai hatte ich  damals einen Kriegskameraden besucht und wollte sich auf der Rückfahrt diese Stadt ansehen. Die Straße, in der er mein Auto parkte, hatte ich mir nicht notiert, schließlich war von hier aus ein Turm und anderes Markantes zu sehen, da waren Irrtümer ausgeschlossen. Ich wanderte nicht sehr ausführlich herum, allein war es zu langweilig (obwohl es in Douai  eine Reihe eindrucksvoller Gebäude gibt).
Auch die vielen kleineren Geschäfte fielen mir auf, sie schienen  mir in Frankreich  verbreiteter zu sein als bei uns, wo sie von den großen Handelsketten hinweggefegt werden. Das würde in Frankreich sicher auch zunehmend so gehen.
Unvermeidbar hatte ich auch an die beiden Weltkriege gedacht und wie doch trotz der Kämpfe in den meisten französischen Städten viele Häuser stehen geblieben waren, ich dachte an Giftgas, Hitler, Wickelgamaschen, eine Szene aus einem alten Kriegsfilm, wo ein Soldat beim Essenfassen zum anderen sagte: „Wenn ich an morgen denke ( wo sie aus der Ertappe heraus wieder in den Schützengraben mussten ), wird mir ganz flau im Magen“. Flau im Magen, das war das Gefühl, das Menschen wie ich millionenfach gehabt hatten, weil sie wußten, daß sie am nächsten Tage wohin mußten, wo ihr Körper und damit sie selbst zerfetzt oder verstümmelt werden sollten.
Ich beruhigte mich damit, daß das alles ja vorbei war, und, wenn es doch nun vorbei war, war es auch fast wie ungeschehen. Es mußte auch nicht mehr geschehen, wenigstens nicht unbedingt.
 
Nach zwei Stunden Herumlaufen hatte ich genug von der Stadt. Und wieder – warum mußte ich nur immer an so etwas denken! - im Vorbeigehen an altem Gemäuer Gedanken an Gerichtsbarkeit, weinende junge Mädchen, die sich an die Kirchenmauer drückten, Folter, Hexenverbrennung, Bischöfe und Fürsten, und schließlich, wenn ich etwas Palaisartiges sah, an Marcel Proust und seine Romane.
Ich fand mein Auto nicht sofort wieder. Ich fand es überhaupt nicht. Ich lief durch sämtliche Seitenstraßen in der Nähe des viereckigen Platzes mit den Zeitungsläden, den ich mir gemerkt hatte. Ich lief über eine Stunde lang herum. Langsam bekam ich Angst.
Ich  hatte  die kuriosesten Sachen gedacht. Zunächst zweifelte ich an mir selbst. Wenn einem das passierte, mußte man ein lebensuntüchtiger, unpraktischer und verschlafener Mensch sein, vielleicht sogar irgendwie pathologisch - es sei denn, das Auto wäre gestohlen worden. Aber das fürchtete ich am wenigsten, denn mein Auto war zehn Jahre alt, wie ich überhaupt meistens nur sehr alte Autos gefahren hatte. Markus dachte immer einen Zug weiter als wir anderen. Mich hatte es nie gestört, daß Markus klüger war als ich. Ich hatte mir immer gesagt, dies müsse überhaupt nichts bedeuten. Es gab schließlich viele Arten von Klugheit.
 
Ich wurde immer verzweifelter. Ich entwickelte mich zurück ins magische Denken der Steinzeitmenschen. Ich überlegte, ob ich jetzt die richtigen Gefühle oder die Gedanken hatte, die man haben mußte, wenn man überraschend gerettet wurde, ich versuchte mir beides vorzustellen, die richtigen Gedanken vorher und die Rettung daraufhin. Man mußte vielleicht mehr verzweifelt sein, dann erst wurde man gerettet? Oder man konnte sich vielleicht an den heiligen Antonius wenden, aber man durfte dabei nicht über seinen eigenen Aberglauben lächeln, aber wie sollte man das vermeiden, wenn man vorher nicht  wusste, ob man lächeln würde?
 
Schließlich brachte ich mit viel Kauderwelsch und Zeichensprache einen Taxifahrer dazu, mit mir in der Stadt herumzufahren Straße um Straße, Gasse um Gasse, zu beiden Seiten Fußgänger, die sich  ängstlich an die Mauern schmiegten. Wir fanden das Auto.
Es war ekelhafter Tag, aber auch eine bleibende Erinnerung
 
Doch daran dachte ich jetzt nicht, als ich mich auf unserem Parkplatz zu orientieren versuchte. Es war der Parkplatz – oder zumindest einer von den möglichen dreien, auf denen wir auch jedes Mal in den vergangenen Jahren bei unserer Rückreise aus dem Skiurlaub vor dem Verladen unser Auto geparkt hatten. Große, von Bäumen eingerahmte Plätze, das Seeufer schimmert hindurch. Man muß Parkkarten ziehen und bei der Abfahrt einlösen.
Die Plätze waren fast vollständig besetzt. Das Heer der ferienbepackten Autos stand aufgereiht, dazwischen krochen einige herum, die einen Parkplatz suchten. Es herrschte  Frühlingstemperatur, aber in der Sonne war es sehr warm.
Ich war erstaunt, als ich nach längerem Suchen merkte, daß ich mich geirrt hatte. Ich hatte diesen Parkplatz in Erinnerung, aber gerade hier fand ich unsere Wagen nicht. Es mußte also doch einer von diesen anschließenden Parkplätzen sein.
 
Doch auch hier suchte ich vergebens. Es war so unglaublich und so unerklärlich, daß ich mehrmals über die Plätze ging, ab und zu einen bänglichen Blick auf die Uhr werfend. Die Abfahrtszeit des Autoreisezuges rückte näher. Ich fragte Leute aus, die sich gerade an ihren Autos zu schaffen machten. Gab es noch andere Parkplätze, und  wo? Nun ja, da bergauf, einige hundert Meter weiter, da sei noch einer, oder weiter rechts und auch bergauf, da sei  einer für Autos mit Wohnanhänger.
Ich mußte es versuchen. Marschierte eilig bergauf, fand es zu weit, um wahrscheinlich zu sein, kehrte um, fragte noch mehr Leute, wurde immer ratloser.
Wie war das denn heute morgen gewesen? Ich war eifrig plaudernd mit meinem Freund vom Parkplatz gegangen, die Frauen voraus, und da war ein Tor in der Stadtmauer. Aber das wäre doch dort, wo ich bereits gesucht hatte?
Mehrmals wurde mir auch der Parkplatz am Bahnhof an der Seespitze genannt, aber da war ich ja vorher entlangspaziert, an diesem winzigen Platz vor dem putzigen kleinen Bahnhof. Da standen unsere Wagen gewiß nicht.
 
Der Abfahrtszeitpunkt des Autoreisezuges rückte näher. Eine Menge Geld wäre verloren, wenn er ohne uns führe, eine anstrengende Fahrt durch die Nacht stände uns bevor. Eigentlich mußte es dieser Parkplatz sein. Wir waren schon zum dritten Mal in dieser Gegend in Urlaub, und jedes Mal hatten wir doch hier geparkt, wenn wir bei der Rückreise vor Abfahrt des Auto-Reisezuges in Lindau ankamen.
Eine widerliche Situation. Meine Frau und die Freunde standen jetzt bestimmt ratlos verzweifelt bei den Autos und warteten auf mich. Ich mußte es noch einmal auf den beiden direkt anschließenden Parkplätzen versuchen. Sie sahen fast genau  so aus wie dieser hier, eine Verwechslung war leicht möglich. Aber alles Suchen nützte nichts, das Auto war weg, die Zeit rann mir aus den Händen. Die Familie war auch nicht zu sehen.
 
Ich fragte einen Mann um Rat, der sich an seinem Geländewagen zu schaffen machte. Ein braungebranntes Männergesicht, gletscherblaue Augen, freundliche, warme Stimme, er wirkte wie ein ruhiger, sicherer Bergführer in gefährlichen Situationen. Er nahm ernstlich Anteil an meiner Notlage, verstand meine Situation, fragte mich nach Einzelheiten der Herfahrt aus. Der Bahnhofsparkplatz, konnte es der sein? Nein, sagte ich, da sei ich ja schon gewesen.
Dann müsse ich doch noch einmal ein Stück bergauf zu jenem Parkplatz gehen. Es sei die einzige verbleibende Möglichkeit.
 
Ich machte mich wieder auf den Weg  Die Sonne brannte so heiß, wie es im Frühling nur möglich war, die Luft schien still zu stehen, unheimliche Stille war um mich. Ich war ein Molekül im Universum, dessen Größe gegen Null ging. In mir war eine Art Vernichtungsgefühl wie vielleicht bei einem Irren, der fühlt, daß er für alle ein Irrer ist, oder wie bei einem Sterbenden, der in die Tiefe stürzt und plötzlich weiß, daß er alle zu wenig geliebt hat, die ihm nahe standen, und nun ist es für immer zu spät. Er wird ausgelöscht sein, so, als ob es ihn nie gegeben hätte.
 
Es war nicht nur quälende Rat- und Hilflosigkeit, die mich belastete, sondern auch der Gedanke an Kosten, Ärger, Mühen, die Ratlosigkeit und Angst meiner Frau, für die ich verschwunden war.
Ich dachte kurz an eine andere Gefahrensituation, in der sich Markus einmal befunden hatte. Von der hatte er mir im „Hirschen“  beim Wein erzählt. Wenn man sie weiter erzählen will, wie ich es jetzt tue, muß man zunächst einen anderen Namen wählen, und das habe ich hier natürlich getan, Markus heißt also in Wahrheit anders. Dann muß man dazu sagen, daß Markus zwar Realschulrektor ist und damit ein moralisches Vorbild sein müßte, daß er dieses Vorbild normalerweise auch war. Nur diesmal lag eben ein Sonderfall vor.
Die Mutter einer Schülerin hatte ihn zuhause aufgesucht, um mit ihm über Probleme mit ihrer Tochter – oder Probleme der Tochter mit der Schule, so genau weiß ich das nicht – zu sprechen. Ich weiß auch nicht, warum das Gespräch in seiner Wohnung stattfand. Wahrscheinlich war es ein eiliger Fall. Vielleicht hatte sie es auch gewollt. Weiter weiß ich nicht, warum Markus´  Frau an diesem Nachmittag nicht anwesend war, aber dafür gab es sicher eine Erklärung. Ich weiß auch nicht, wie jene Mutter hieß, Markus wird es nie verraten. Sie war eben nur blond, schlank, leise und wirkte sehr ernsthaft  und aufmerksam.
 
So etwas kann man sich leicht vorstellen. Auch die Situation kann ich mir vorstellen: Mann und Frau allein, Mann allerseits estimiert, passabel aussehend, gutmütige und doch männliche Gesichtszüge – aber zunächst und auch später geschah nichts Unziemliches in dieser Studierstube.
Und so blieb es auch während des halbstündigen Gesprächs. Nur draußen, an der Wohnungstüre, da war dieser Blick, nein, beider Blicke waren es, und wirklich nur die Blicke bei ruhigem, unbewegten Gesichtsausdruck, aber keinerlei Berührung oder sonstige Annäherung. Aber diese Blicke reichten, um Markus zu zwingen, sich vorzubeugen und die blonde Frau leicht auf die Stirn zu küssen.
Nun gut, könnte man sagen. Das übliche, leichte Vorbeiwehen von Verliebtheit, das kennt jeder.
Aber es blieb nicht dabei. Am nächsten Tag kam ein Anruf. Kein Name, keine Begrüßung. Die leise Stimme sagte nur: „Ich möchte Sie wiedersehen.“
Das war kein Spaß mehr. Eine verheiratete Frau, ein Schuldirektor. Und Markus fühlte sich völlig unfähig zur Gegenwehr. Nur nachgeben wollte er, nichts als nachgeben. Das war eine Wirklichkeit, die sich wie ein eiserner Stachel in ihn bohrte.
 
Zurück zu meiner verzweifelten Auto-Suche. Ich lief immer noch herum. Plötzlich hielt ein Auto neben mir, ein Geländewagen. Es war wieder der Mann mit dem Bergführergesicht. Er wolle mit mir die Parkplätze abfahren, sagte er freundlich, es müsse doch eine Erklärung geben.
Während ich neben ihm daherschaukelte, empfand ich tiefe Dankbarkeit, und, ich will es zugeben, eine Vermutung auf übernatürliches Eingreifen. Wer anders als der heilige Antonius, den ich neben anderen Heiligen heimlich und gegen allen meinen Protestantismus für hilfsbereit und fähig hielt, konnte so etwas veranlassen, oder saß er gar verkleidet neben mir? War dieses Lächeln neben mir nicht fast ein wenig heilig?
Mein Beschützer fragte mich aus. Er wollte wissen, was ich heute morgen auf meinem Weg vom Auto gesehen hatte, wie lang der Weg gewesen war. Ich antwortete, es könnten nur ganz wenige Minuten gewesen sein, die Stadtmauer sei kurz nach dem Aussteigen aufgetaucht, ich erinnere mich nur an den großen Parkplatz, an Bäume und an die Stadtmauer mit Durchgang, die ganz kurz, wie gesagt, ganz kurz nach dem Aussteigen, aufgetaucht sei.
 
„Wir fahren sie alle ab“, sagte der Mann neben mir. Es gibt also doch gute Menschen, dachte ich. Aber es wird nichts nützen.
Während des Fahrens blitzte trotz der aufgeregten Situation der Geschichte von Markus in mir auf.
 
Die beiden Verschwörer, Markus und die Frau, hatten ausgemacht, daß sie sich mit ihren beiden Autos am Stadtrand treffen und auf der A 61 zur nächsten Stadt fahren würden. Unterwegs sollte ihr Wagen auf einem Parkplatz warten und sie würde zu ihm einsteigen.
Sie fuhr hinter ihm her. Immer wieder spähte er über den Rückspiegel nach ihr, nach dem blonden Schimmer hinter der Frontscheibe. Auf der graunebeligen Autobahn kam eine Parkbucht, Markus blinkte rechtzeitig und sie bogen beide ein. Die  Frau stellte ihren Wagen ab, und gemeinsam fuhren sie weiter. In der nächsten Stadt wollte Markus ein Manuskript für die Schultheatergruppe bei einem Kollegen abholen, ein wunderschönes Alibi, er konnte seiner Frau Ulrike sogar sagen, wo er gewesen war; er konnte sich selber sagen, daß er zunächst nur zu einer unabweisbaren Besorgung aufgebrochen war. Es konnte ja durchaus sein, daß nichts passierte, zumal er sich keinerlei erregende Vorstellungen erlaubte. Er hielt dies leichtfertig schon für ausreichende Selbstbeherrschung.
Seit Jahren spürte er wieder einmal jene tiefe, aufwühlende, überwältigende Erregung, die viele ersehnen und fürchten. Markus und die Frau wechselten nur wenige Worte, er hatte mit heiserer Stimme gefragt, wie lange sie Zeit habe. „Mindestens drei Stunden“, hatte sie geantwortet.
Das Auto brummte über die Autobahn, die blonde Frau kauerte neben Markus und brachte ihn zum Erschauern.
 
Wunderbar gehe es ihm, sagte er zu seinem Kollegen, bei dem er das Manuskript abholte, wunderbar, nur, er sei ein wenig eilig, die angebotene Tasse Kaffee müssten sie später nachholen.
Beim kurzen Weg von diesem Haus zu dem Wagen um die Ecke hatte im umnebelten Hirn von Markus nur der Gedanke an die Göttin der Liebe Platz, sie, die alle anderen Frauen übertraf, übertraf an Liebeskunst und Freiheit.
Das Paar fuhr zurück. In der Parkbucht angekommen, brauchten sie erst einige Minuten, bis sie begriffen, daß der Wagen von Markus´ blonder Beifahrerin verschwunden war. Es durfte nicht wahr sein. Aber es war die Wirklichkeit.
„Himmel! Was sage ich  meinem Mann?!“
Markus verfiel auf die einzige Möglichkeit. „Wir müssen auf jeden Fall zur Polizei.“
Sie verließen die Autobahn an der nahegelegenen Ausfahrt, kamen auf eine Landstraße und sahen bei hereinbrechender Dunkelheit ein Stück Erftlandschaft vor sich, Gräben, Äcker, Wiesen, Hecken.
Aber schon nach etwa hundert Metern Weiterfahrt stießen sie auf einen Pulk von Autos. Beim Näherkommen sahen die beiden, daß es Polizeiautos waren. Zwei Polizisten mit rotstrahlenden Kellen hielten Autos an, um sie aus irgendwelchen Gründen zu überprüfen. Markus wandte sich an einen Polizisten im Streifenwagen und berichtete von dem Verlust dieses Autos. Der Polizist wollte die Nummer wissen, dann rief  er über Funktelefon seine Dienststelle an.
„Ja. Die haben Ihren Wagen. Er wurde abgeschleppt. Sie hatten ihn in einer Nothaltebucht geparkt. Da ist Parken verboten.“
 
Der Wagen konnte noch am gleichen Abend bei einem Abschleppunternehmer abgeholt und ausgelöst werden. Ein Strafmandat sollte folgen.
Hoffentlich kann sie das beim Postboten abfangen, dachte Markus, als er die roten Rücklichter ihres Wagen im Dunkel verschwinden sah.
Sie war im Höllentempo losgefahren. Nur kurz beruhigt hatte sie ihn, er brauche sich nicht die geringste Sorge zu machen, sie bringe das in Ordnung, sie sei öfter unterwegs, und ihr Mann sei heute in Bonn und komme sicher spät nach Hause.
 
Auch Markus fuhr rasch nach Hause. Es gab keine Anrufe mehr, aber ein tiefes, lähmendes Versunkensein in die Lust der letzten Stunden begleitete ihn noch monatelang. Es war süß und machte depressiv. Manchmal, wenn er die Last von sich zu wälzen versuchte, sagte er sich, er sei eben einer besonders wilden Frau begegnet, darauf sei er nicht vorbereitet gewesen. Kein Mann wäre das.
Denn nie, so sagte er sich, nie hätte er seine Frau Ulrike, diese gute Seele mit dem herzensguten Sportlehrerinnengesicht, betrogen. Nie hätte er sich von der Sucht infizieren lassen, die er immer noch spürte, nie in die Gefahr begeben, ein Leben wie der Herzog von Windsor führen zu müssen, immer lieben, immer zusammen glücklich sein mit einer Frau, der er nachgegeben hatte. 
 
Sagen Sie“, fragte der nette Kerl in Lindau neben mir, „sind Sie vielleicht über eine Brücke gekommen, als Sie heute morgen zum Parkplatz fuhren, also hinwärts? Was auch sonst!“
Ja, das sei ich, über eine kleine Holzbrücke,  erinnerte ich mich.
Dann sei es auch der Bahnhofsparkplatz, behauptete er. „Unmöglich,“ widersprach ich. Der sei viel zu klein.
„Wir fahren trotzdem hin“, schlug er vor. Wir rumpelten über die Holzbrücke.
„Hier war es!“ schrie ich. „Hier ist ja ein richtig großer Parkplatz. Und der sieht genau so aus wie die anderen, auf denen ich gesucht habe.“
Der sei wirklich so groß, erklärte er. Hier seien nicht drei, sondern vier ähnlich aussehende Parkplätze. Dieser hier sei genau so wie die anderen. Und er habe ihn deshalb Bahnhofsparkplatz genannt, weil er an den Bahnhof grenze; man nehme den Bahnhof nur nicht immer gleich wahr, es sei eben von hier doch ein kleines Stückchen Weg bis dahin, ein paar Dutzend Meter, Bäume stünden herum, aber egal, ich sei endlich da.
Ein Stück weiter sah ich meine Frau und die Freunde herumirren. „Mein Gott“, rief ich, „da sind meine Leute! Ich bin Ihnen  so verdammt dankbar! Das würde nicht jeder tun, was Sie getan haben.“
Er winkte mir beim Wegfahren kurz zu.
Auf dem Weg zu den Meinen suchte ich alle Erklärungen zusammen. Ich hatte am Morgen die Augen nicht richtig aufgemacht, die Bilder der Vorjahresparkplätze und des Weges dahin hatten sich in meine Vorstellungen geschoben, ich hatte mir nichts Besonderes auf diesem Parkplatz gemerkt, ich hatte mir unter Bahnhofsparkplatz eben immer nur den hübschen kleinen Vorplatz vor dem Bahnhofseingang vorgestellt...
Und außerdem war es egal, was sie von mir dachten. Wer war mir da nur begegnet...?
 

© Karl Otto Mühl - Erstveröffentlichung dieser Fassung in den Musenblättern 2009
Redaktion: Frank Becker