Morgen mit Wartezimmer

von Karl Otto Mühl

Foto © Rainer Sturm / Pixelio
Morgen mit Wartezimmer
 
 
Der Wecker hat geschrillt, ich habe die Augen geöffnet und zum Fenster geblinzelt, aber da ist es ja fast noch dunkel! Sicher, ich stehe heute eine Viertelstunde früher auf, aber so etwas!
 
So schnell ist es Herbst geworden. Die Tage werden immer kürzer. Unglaublich, wieso ging das so schnell und plötzlich, und wieso ist es überhaupt passiert? Es gab diesen Herbst bisher doch nur als Vermutung! Natürlich gibt es den Kalender, aber auch der liebe Gott beachtet den Kalender nicht, und Zahlen und Daten kennt er schon gar nicht.
Und dennoch scheint alles möglich zu sein. Daß an einem Morgen 4.000 Schiffe vor der Küste der Normandie im Dunst auftauchen, daß der Richter einen Menschen für 25 Jahre ins GULAG schickt, daß ein Profoß Sklaven ins phönizische Bergwerk treibt, wo sie schuften müssen, bis sie endlich sterben dürfen; das Unglaubliche ist möglich, und daran denken zu müssen, unerträglich.
 
Mir fällt ein: Ich muß zum Arzt, darum stehe ich früher auf, und darum kommen mir auch diese widerlichen Gedanken. Es gibt ein fröstelndes Frühstück, immer noch im Freien vor meiner Bäckerei, aber lange wird das nicht mehr so gehen, wenn es noch kühler wird. Inzwischen kenne ich die meisten Morgenkunden hier. Wir grüßen einander, fast hätte ich Lust, auch die kleinen Hunde zu grüßen, die neben mir an einem Haken angeleint werden. Eigentlich ist dies ja ein geruhsamer Augenblick, nur der Gedanke an den Arzt stört.
Immer ist etwas. Dieser Ausdruck ist gut verwendbar, er paßt zu allem und zu jeder Situation. Nie haben wir nur das Eigentliche, die Freundschaft, die Hoffnung, den Anblick eines geliebten Gesichts, den vollständigen Einfall, die sichere Zufriedenheit, immer ist etwas; was uns hindert, zurückhält, oft unerkannt; nie das ganz Echte, Wirkliche, Gewollte, nie erreichen wir das Vollkommene; immer ist etwas.
 
Auch jetzt. Ich  sitze hier ruhig unter den anderen Wartenden, übrigens fast alles ältere Menschen. Das ist die Regel in den Wartezimmern. Die anderen lesen fast alle in den Zeitschriften, wahrscheinlich, um sich die Zeit zu vertreiben. Ich lese nicht, ich will mir die Zeit nicht vertreiben, ich will sie hinter mich bringen. Und ich muß auf sie aufpassen, damit inzwischen nichts passiert. Immer ist etwas.
Ich will gar nicht wissen, was mir der Arzt zu sagen hat. Im Ernstfall möchte ich es lieber selbst nach und nach herausfinden, mache ich mir vor.
 
Die Sprechstundenhilfe ruft mich. Der Arzt steht neben ihr und verteilt Rezepte. „Sie wollten ja nur das Rezept. Alles in Ordnung?“ fragt er mich. „Oder war etwas Besonderes?“ Ich schüttele den Kopf.
Er ist zufrieden, und ich auch. Diesmal war nichts, auch nicht etwas. Oder doch? Ich muß nachdenken.
 
 
© Karl Otto Mühl – Erstveröffentlichung in den Musenblättern 2009