Japan in einem Atemzug

Ein Essay über die Haiku Bashos (1)

von Michael Zeller

Foto © Jürgen Kasten
 
Japan in einem Atemzug
 

Siebzehn Silben
sind so lang wie ein Atemzug

Basho
 
 

1.
 
     Auf dem Flug nach Japan, meinem ersten, lernte ich den Kollegen Basho kennen. Vor dreihundertfünfzig Jahren hat er gelebt. Das zählt wenig in der Literatur. Östlich von Murmansk und Archangelsk (die Weite Sibiriens drohte mir noch) begegnete ich seinem Namen im Reiseführer. Basho sei ein Meister des Haiku gewesen. Einen einzigen Vers nur gönnte ihm (und mir) das Buch:
 
Ein reisendes Herz
verweilt nie an einem Ort
beim warmen Feuer
 
Ein Vers nur. Der aber zündete.
 
Denn ich verweilte hier ja wahrhaftig nicht beim warmen Feuer. Ich befand mich an einem Ort, der die quälendsten Alpträume gebiert. In einer Blechkapsel eingeschweißt und festgezurrt, Wade an Wade mit den fremdesten Menschen der Welt, zehntausend Meter weggehoben vom Boden der Erde (das zählt wenig in unserer Zeit), riß dieser bescheidene Vers einen Raum vor mir auf, ohne das Luftschiff im mindesten zu gefährden: Die Weite, die raumlose Weite von Poesie. Da sprach jemand mit einer lakonischen Nüchternheit, die auch nach dreihundert Jahren auf den ersten Blick überzeugte. Als könnte es gar nicht anders gesagt sein. Und doch vibrierend vom Schlag eines Herzens.
 
Wie einfach gebaut war dieses kleine Ding! Auf drei Zeilen, mit fünf und sieben und fünf Silben gefüllt: darauf mußte alles Platz haben, was zu sagen ist: Gedanke wie Gefühl.
 
Wie mochte das funktionieren, dieses Fünf – Sieben – Fünf, in meiner Sprache, fragte ich mich, eingezwängt in dieser Alptraumkapsel. Der körperlichen Bewegungsfreiheit so gut wie beraubt, gefesselt, um jedes Abschweifen zu verhindern, war meine Schreibsituation haikuartig karg. Auf der Speisekarte irgendeiner Mahlzeit kritzelte ich mit dem Bleistiftstummel aus der Hosentasche, im abgedunkelten Dösen um mich herum, dem nächtigen Himmel nah wie selten sonst und unter mir das schlafende Sibirien – hier brachte ich meinen ersten Versuch zu Papier, auf Bashos Spuren:
 
                                                                                   Fliegend zu reisen
                                                                                   über die Weiten der Welt
                                                                                   macht die Beine taub
 
Im Mangel wird Reichtum deutlicher sichtbar. Wie viel Platz doch auf so einer abgegessenen Speisekarte ist! An Prosa wäre nicht zu denken. Aber für einen zweiten Haiku, gleich hinterher, reichte es leicht.
 
Das Land unter dir
wie ein Spielzeug zu ahnen
Schon bist du ein Zwerg
 
Der Körper vergessen, der Kopf war auf Reisen. Schon wollte er, vorlaut wie er ist, einen Triumph der Poesie über die Materie feiern, da drängte sich, vielleicht wegen der versuchten Gewichtsverlagerung auf die andere Pobacke, gequält die Frage durch meine betäubten Glieder: Warum tust du dir das überhaupt an, dieses Unterwegssein?
                                                                                 Außer Haus zu sein
                                                                                 im fremden Bett zu schlafen
                                                                                 ist Last dir wie Glück
 
Jetzt endlich war sie randvoll, die Speisekarte. Doch die Finger meiner linken Hand waren angeworfen. Eins, zwei, drei, vier, fünf. Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben. Noch einmal bis fünf. Sie standen mir nicht mehr still, solange ich in Japan war.
 
 
 
2.
 
     Und selbst nach der Rückkehr, auf dem Flughafen von Paris, blieben sie rege, die silbensetzenden Finger. Die Trauer des Verlustes war zu fassen, der Enttäuschung. Halb zu Stein geworden der Körper nach zwölf Stunden Flug – nur die Zählhand war munter geblieben.
 
Laut sind sie und plump
Europas Menschenkinder
Die Rückkehr macht klein
 
Dann mein Willkommensgruß in der Heimat:
 
                                                                             O der ranke Wuchs
                                                                             der Japaner, alt wie jung
                                                                             Hier Butterfässer
 
Mein letztes japanisches Wort. „Last wie Glück“ des Reisens: Diesen unerfreulichen Vergleich hätte ich mir sparen können, wenn ich es vor Wochen in den eigenen vier Wänden ausgehalten hätte.
 
Ein reisendes Herz
verweilt nie an einem Ort
beim warmen Feuer
 
 
 
3.
 
     Angekommen. Ich hatte Boden unter den Füßen, war wieder ein freier Mann. Der Boden hier heißt Japan. Zum ersten Mal war ich in diesem Land. Kein Wiedererkennen, Vergleichen mit früher. Alles war ohne Maßstab. Der Zugang geschah spontan, das Angezogensein wie die Abstoßung. Beides lief über die Sinne, wie sie von den Erfahrungen meines bisherigen Lebens vorgespurt und ausgerichtet sind, geschärft oder erlahmt. Was quer zu diesen Erfahrungen stand, berührte mich als Fremdheit.
 
Die erste Befremdung, bereits im Flughafen, lösten die Mullbinden aus, die die Menschen hier vor dem Mund tragen. Der quadratische weiße Lappen über Nase und Mund. Das, was das Gesicht eines Menschen ausmacht – verschwunden. Keine Personen sah ich – Patienten. Jeder zweite, so kam es mir vor, lief damit herum.
 
                                                                                      Des Menschen Antlitz
                                                                                      hinter Tüll zu verstecken 
                                                                                      Gesund soll das sein?
 
Für jemanden, der es gewohnt ist, unausgesetzt in den Gesichtern seiner Mitmenschen zu lesen, gierig geradezu, war das natürlich mehr als eine Störung. Ich fühlte mich von diesen Angsthasen betrogen, verzieh es ihnen nicht, daß sie mich mit leeren Händen dastehen ließen. Ich habe mich geärgert, machte mich lustig darüber. Gewöhnen mochte ich mich an diesen Anblick nie. Jedesmal löste der weiße Gesundheitsfetzen etwas in mir aus.
 
Eine ganze Reihe von Tagen hat es gebraucht, ehe ich ihm eine andere Seite abgewann. Da mir Mund und Nase vorenthalten waren, blieben meiner Neugier nur die Augen übrig. Darin lag eine Chance. Und es hat mich versöhnt.
 
Manchmal geschieht es
das Geheimnis des Schleiers
als Maske vorm Mund
 
Über die Augen, dem Eingang der Seele nach alter Rede, gelang es mir, wenn auch erst spät, die Mundbinde hinzunehmen und in einen anderen Bereich vorzudringen. Einen höheren vielleicht.
 
                                                                              Über dem Mullrand
                                                                              dunkelbraunes Augenpaar
                                                                              verführt zum Träumen
 
 
 
 
4.
 
     Daß ich meine Eindrücke in diesem fremden Land vom ersten Augenblick an in Bashos Manier festhielt, dem Zufallsbekannten aus dem Flugzeug, vor dreihundert Jahren zur Form geworden in einen mir unvertrauten Kulturkreis, war so selbstverständlich, daß ich darauf keinen Gedanken verschwenden mußte. Es geschah beiläufig. Wie das Einatmen der hiesigen Luft.
 
AUF SCHMALEN PFADEN
DURCHS HINTERLAND zählt Basho
„Fünf, sieben und fünf“
 
Die Kürze des Haiku kommt gerade dem Reisenden zugute. Der Bleistiftstummel, mit aufgestecktem Radiergummi, ist mir immer zur Hand, ein Schnitzel Papier liegt überall herum. Beim Gehen, im Stehen, beim Fahren in der vollgestopften Stadtbahn – nirgendwo machte das Schreiben Umstände. Ein schlanker Vorgang. Und er saß hautnah am Leben. Das Maß der siebzehn Silben wie angegossen. Als übte ich es schon ein Leben lang.
 
Ein Glücksfall natürlich (es überraschte mich keine Sekunde lang), daß mir in einer internationalen Buchhandlung Bashos Buch „Auf schmalen Pfaden durchs Hinterland“ in die Hände fiel, der Bericht seiner letzten langen Fußreise. Ein Büchlein zudem, das bequem in die Gesäßtasche der Hose paßte. Ab jetzt gingen wir zu zweit durch dieses Land, Schritt vor Schritt, der alte Meister und sein stümperhafter Lehrling. Daß uns dreihundert Jahre trennen sollten, hielt ich für eine Arabeske aus Zahlen. Gryphius, Bashos schlesischer Zeitgenosse, wäre mir vermutlich ferner gewesen. Poesie kennt keine Grenzen, von Zeit so wenig wie zwischen Orten. Es ist Luftraum.
 
                                                                           Krähen im Gespräch
                                                                           hinweg über unsren Kopf
                                                                           Was meinen sie bloß?





Lesen Sie am kommenden Sonntag Teil 2 von Michael Zellers
Essay

© Michael Zeller - Erstveröffentlichung in den Musenblättern 2009

Redaktion: Frank Becker