Moderne Menschen

von Hanns Dieter Hüsch

© André Poloczek - Archiv Musenblätter

Moderne Menschen


Woran erkennt man heutzutage einen modernen Men­schen? Am Folgenden. Kommt der moderne Mensch aus dem Kino und man fragt ihn, na, wie war's denn, dann sagt er meist: Na ja, glänzend gemacht, es war ein abessinischer Film, aber leider war er deutsch synchro­nisiert. So ist ja auch der moderne Kabarettist daran zu erkennen, daß er ständig in der Nase der Zeit bohrt. Oder der moderne Dichter daran, daß er immer wieder sein Ohr auf die Schienen der Gesellschaft legt, daher ja auch das geflügelte Wort vom aufgeschlossenen Ohr, da ist der Schnellzug etwas zu dicht am Ohr vorbeige­flitzt. Der moderne Maler ist daran zu erkennen, daß er ringt, mit der Farbe, meine ich, right or ring, my picture. Und der moderne Musiker ist ja nur aus seiner Zeit heraus zu verstehen, allerlei von zwei bis drei.

Wie alle diese schöpferischen Supergeister geben wir etwas einfacheren Menschen stets aufs neue unser Gra­phischstes bzw. unser Fotographischstes. Wir sind ständig, tagein, nachtaus, auf Motivsuche. Ich hätte da noch ein paar kleine Anregungen: Auf einem Marktplatz, mit Tauben, Sie kennen den Marktplatz, da wartet der moderne Mensch so lange, bis nur noch eine Taube da­sitzt. Dann erst knipst er: große Fläche, eine Taube, Weltende. Sehr hübsch ist auch folgendes: Durch den Seitendurchgang einer alten Kirche den Namen einer modernen Nachtbar, beispielsweise namens Lido, zu fotografieren. Transparenz auf Schritt und Trott. Kinder­spielplatz: Auf einer Bank ein durchwirkter Greis. Das Ganze über den Sandkasten quer geschossen. Ge­heimnis Leben, Biologie festhalten, ewiges auf und ab, Stirb und hin und her... Auf Helgoland sind's die Mö­wen, die zum modernen Menschen sprechen. Kampf ums Dasein, Gesetzmäßigkeiten, Echtheitsdurst, Enga­gement, Linsenwahrheiten.

Dagegen etwas ganz Einfaches: der Bauer auf dem Fel­de. Wie er so gesund und sicher dahinschreitet, Sym­bol des Optimismus, der Schnitter, die Säfrau. Der Bauer, was mag sich aber hinter seiner Stirn abspielen, ob er an seinen Lebensnachmittag denkt? Wer weiß das? Wer weiß das? Sehn Sie, und dieses: "Wer weiß das" in Gänsefüßchen, sollte in einem jeden guten Foto enthalten sein. Zwischentöne, meine Damen und Herren. In der Literatur würde man sagen, man muß das Foto offen lassen.

Sehr schön ist auch zum Beispiel: Drei Schulbuben be­trachten ein Kriegerehrenmal. Ein guter Fotograf ist selbstverständlich ein geduldiger Fotograf. Er wartet nämlich so lange, bis die Buben sich prügeln, erst dann knipst er. Warum? Dann hat er nämlich zwei historische Ebenen mit einer Klappe eingefangen. Alles kleine Käut­ners, Wickis und Fellinis. Der moderne Mensch legt sein Fotogerät natürlich auch in ein modernes Schränkchen. Das moderne Schränkchen steht in einem modernen Raum, Wände alle weiß, Rauhfaser. Der moderne Mensch geht ständig hin und her, stellt diesen Stuhl mal dorthin und jene schwedische Leuchte mal hierhin, um seinem Raum immer neue graphische Spannungen zu verleihen.

Er fotografiert inzwischen auch keinen Wald mehr, ge­schweige denn einen Baum oder gar einen Busch, nein er fotografiert nur noch die Rinde, weil er ja ganz vom Substantiellen herkommt. Nicht die Naturtotale, die to­tale Natur, sondern Natursignale, keinen Ferienbilder­bogen, sondern Ferienfragmente, nicht der Blumengar­ten, sondern das Blütenblatt, dreimal vergrößert, bewußt unscharf, Unschärfe als Ausdruck, das alles macht des modernen Menschen Auge wirsch. Er schließt sich auch nie einem Fotografenrudel an oder einer Führung durch Pfahlbaudörfer oder einer Rollschuhfahrt durchs wilde Kurdistan oder einer Schnitzeljagd in Somaliland, nein, er bleibt Individualist.

Da hat er eine Häuserwand erblinzelt. Das Haus wurde 1659 gebaut. Er streicht ein paarmal mit der Hand über den spröden Verputz. 300 Jahre, sagt er schlicht. Dann sucht er sich eine sehr historische Stelle aus, ein Stück Wand aus Battenbrunn ob der Brisach (jenem malerischen Flecken, bekannt geworden durch die be­rühmte Salamanderschlacht im Jahre 1138, wo ja be­kanntlich Heinrich der Hamster gegen Oskar den Frosch zog. Heinrich der Hamster sammelte ja damals alle Kreuz- und Hexenschußritter um sich, um die hereinbrechende Tungusengefahr abzuwehren, aber das nur am Rande), also ein Stück Wand aus Battenbrunn ob der Brisach. Und nun geht der moderne Mensch öfter in seinem Studio hin und her, er nennt nämlich sein Arbeitszimmer nicht schlicht Arbeitszimmer, son­dern noch schlichter: Studio. Er geht also hin und her, hält sein Foto im Weltpostkartenformat in der Hand und sagt schließlich assoziativ: Wallenstein. Er schmeckt Geschichte.
 
Manchmal kommen abends Gäste: alles junge Leute, modern, weltoffen, aufgeschlossen, kurz: Menschen. Der Abend steht unter dem Motto: Ferienfresken 1962 von Aldo Heinrichs, so heißt er meinetwegen. Seine Freunde nennen ihn AI. Und dann geht's los: Projektionen aller Länder vereinigt euch: Rinde, Rinde von links, späte Rinde, Rinde verkantet, Blatt plus Laus, Laus minus Blatt, Blüte 62. Pflasterstein 62. Das geht so bis zwei oder drei Uhr. Dann steht ein anderer auf und verkündet: Kinder, wie ist es nächsten Dienstag bei mir, Ferien-Mosaik 62. Getränke bringt jeder selbst mit. Und Erdnüsse.
 
Jaaa, wir modernen Menschen sind ja fein raus, wir sehen ja alles das, was die unmodernen Menschen nicht sehn. Geht der moderne Mensch dann gen Abend in sein Bett, in ein Modellbett natürlich, und ist er dann endlich modern eingeschlafen, dann träumt er natürlich davon, daß er morgen mal rustikal essen wird, mit dem neuen Islandia-Besteck, Entwurf Holger Achterblaad, und übermorgen mit dem neuen Zinnteller, Entwurf Stag Bigerknud, beide Oslo, Grand Prix 59, Brüssel.
 
Sie sehen, ich komme wieder auf meinen Bauernpunkt, auf mein Ausgangszimmer zurück. Wir verknüpfen stän­dig das Alte mit dem Neuen, das Städtische mit dem Ländlichen, das Diesseitige mit dem..., wir haben eben diesen archaischen Komplex, diese Blockhaus-Struktur in uns, dieses Intellektuell-Kirgisisch-Gesteppte.
 
Unser aller Traum, Ziel und Sehnsucht ist doch immer noch die schon brüchige Moorkate in Schafswede (Künstlerkolonie), wo wir morgens um 5.25 Uhr bei strö­mendem Regen im Pelzmantel und mit Wasserstie­feln durchs morsche Tor treten, um übers Land auszu­streunen, an der Hand die intellektuelle Ziege, die vier­beinige meine ich. Tja. Nun, so ist das auch bei mir. Da hängt auch über der alten Bauerntruhe ein moderner Stich, und in einem anderen Raum steht unter einem alten Stich eine moderne Schaukelliege. Und wenn man das alles so sieht, dann stimmt auch alles, und ich muß fast sagen: Ich weiß gar nicht, was ich gegen mich habe.
 
1956


© Chris Rasche-Hüsch
Veröffentlichung aus dem Band "Den möcht´ ich seh´n..." in den Musenblättern mit freundlicher Genehmigung