Vor dem Stück ist nach dem Stück

Christoph Mehler inszeniert Patrick Marbers "Hautnah"

von Frank Becker
Tragik mit Biß

Christoph Mehler inszeniert Patrick Marbers
intimes Drama "Hautnah"




Regie
: Christoph Meher - Bühne und Kostüme: Nehle Balkhausen - Licht: Frank Kraus
Besetzung: Sandra Gerling (Alice) - Marc Oliver Schulze (Dan) - Sascha Nathan (Larry) - Claude De Demo (Anna) - Fotos: Birgit Hupfeld

Konstellationen

Die Bühne (Nehle Balkhausen) ist ein grauer Guckkasten, den neuzeitlichen Fernsehgewohnheiten im Maß 16:9 angepaßt. Hier geschieht alles, hier ist nichts zu sehen als die wechselnde Konstellation

Sandra Gerling - Foto © Birgit Hupfeld
der dramatis personae, das Geschehen reduziert sich durch diesen beliebten, hier besonders gelungenen Kunstgriff genial auf die Personen der Handlung. Die volle Konzentration gehört ihnen, ihren Emotionen, Wendungen, Auseinandersetzungen, Eifersuchten und multiplen Verletzungen. Christoph Meher hat mit Hilfe des Bühnenbildes das Vierpersonenstück, eine Tragödie von griechischen Ausmaßen, die Patrick Marber mit den Mitteln der Komödie erzählt, in unerhörter atmosphärischer Dichte in Szene setzen können - und daraus ein mitreißendes Psychodrama gemacht.
Alice, eine Stripperin und Dan, ein glückloser Autor, der jetzt Nachrufe schreibt, treffen durch einen Unfall aufeinander, verlieben sich, beginnen eine Affäre. Ein Dialog der beiden wirft die Kernfrage auf und beantwortet sie natürlich nicht: "Ich weiß, was Männer wollen. - Was wollen sie? - Geliebt werden. - So einfach?" Doch schon während Dan Alice´ intime Biographie zu seinem ersten literarischen Erfolg ummünzt, tut sich mit dem Auftritt Annas die Tür zum zerstörerischen Liebeskarussell auf.

Zeitsprünge

Larry, ein Arzt und Anna, eine Fotografin, die Dan für den Verlag porträtieren soll, treten auf die

Claude De Demo, Marc Oliver Schulze - Foto © Birgit Hupfeld
Szene. Wechselweise werden nun über einen Zeitraum von Jahren die Paare überkreuz zueinander finden, wir sehen sie lieben und leiden, lügen und betrügen - aus Liebe, aus Leidenschaft, aus Spielerei und aus Sehnsucht nach dem, was alle nicht finden. Wir treffen sie in diesem von Lügen, Weisheiten und Selbstzerfleischungen zerbrechenden auf Sand errichteten Gebäude im kalten Warteraum einer Krankenhaus-Ambulanz, in einem witzigen virtuellen erotischen Chatroom, auf einer Vernissage, in ihren gemeinsamen Wohnungen, vor einem Aquarium. Das alles (s.o.) spielt sich dank des großartigen Konzepts Marbers und der kongenial umgesetzten Bochumer Fassung unmittelbar in den Köpfen der zugleich erschütterten wie amüsierten Zuschauer ab. Dan ist der skrupellose Manipulator, dem sich Alice als wandelnde Lebenslüge als ebenbürtig erweist, Larry und Anna sind hilflose Opfer ihrer Liebessehnsucht, wenn auch im Zurückschlagen mindestens so schonungslos wie die anderen. "Sei eine Hure, und ich bezahle dich dafür mit deiner Freiheit." Doch Opfer sind sie letztenendes alle. Da wird um den "Abschieds-Fick" gebettelt, gerungen, bestraft sich das Opfer noch selber mit bohrenden Fragen nach Verlauf und Details der sexuellen Untreue, ist jeder, aber auch jeder so gemein zu sich und den anderen, wie Menschen eben sein können.

Wahrheiten

Sascha Nathan, Sandra Gerling - Foto © Birgit Hupfeld

"Männer verlangen nach Wahrheiten, die sie gar nicht wissen wollen!" Eine Erkenntnis, die zwar nicht  zu einer Problemlösung oder Verhaltensänderung führt, aber etwas deutlicher macht, wieso es uns Kerlen aus Sicht mancher Damen so übel ergeht. Nach dem Stück ist also vor dem Stück. Es endet, wie es begann - mit einem Unfall. Gerling, Schulze, Nathan und De Demo haben sich in subtilen und brachialen Dialogen stellvertretend für die leidenden Liebenden, die Einsamen, die Betrogenen und die Selbstbetrüger deren seelische Qualen aufgeladen - und sich der dramatischen Aufgabe brillant und hautnah entledigt. Das hat Biß. Eine
empfehlenswerte Inszenierung trotz der brutal lauten Klangeinspielungen zwischen den Szenen (beim Lichtwechsel schnell die Ohren zuhalten!).

Weitere Informationen unter:
www.schauspielhausbochum.de