Kunst ohne Mätzchen

Das Musical „Cabaret“ an den existenzbedrohten Wuppertaler Bühnen

von Peter Bilsing

Foto © Frank Becker
Hier gilt´ s der Kunst
und nicht den Mätzchen
 
Das Musical „Cabaret“
von John Masteroff und John Kander an den existenzbedrohten Wuppertaler Bühnen
 
 

Regie: Werner Pichler - Musikalische Leitung: Florian Frannek - Choreographie: Rosita Steinhauer – Bühne: Andrea Hölzl

Besetzung: Sally Bowles: Judith Jakob - Clifford Bradshaw: Olaf Haye - Conferencier: Christian Sturm - Fräulein Schneider: Ingeborg Wolff - Herr Schulz: Andreas Ramstein - Ernst Ludwig: Andreas Möckel - Fräulein Kost: Juliane Pempelfort - KitKatGirls: Sabine Ruflair, Julia Leinweber, Rachel Marshall, Julia Leinweber - Junge: Dominik Urbanczyk, Mattis Kuhlmann
Sinfonieorchester Wuppertal - Chor der Wuppertaler Bühnen - Ballett Tanzstatisterie der Wuppertaler Bühnen


Der Schriftsteller Clifford Bradshaw sucht in Berlin Inspiration für einen Roman und taucht ein in das Bohème-Leben der späten Zwanziger Jahre. Er verliebt sich in Sally. Das Musical entwirft ein

Judith Jakob - Foto: Wuppertaler Bühnen
packendes Bild von Berlin vor 1933 – zeigt wie die Träume der Menschen zerstört werden und diese es einfach geschehen lassen. In Momentaufnahmen und Milieustudien schildert das Musical Cabaret die Liebesgeschichte von Clifford und Sally und den Weg Deutschlands in den Faschismus.

G
roße Schauspielkunst, enorme Musikalität und eine einfühlsame Werktreue machen das vielgespielte Musical „Cabaret“ in Wuppertal zu einem großartigen Abend. Eine phantastische Musiktheater- und Schauspiel-Truppe, die, wenn es nach dem Willen der Wuppertaler Politik geht, demnächst weggespart werden soll. Was für ein Skandal! Dabei ist es nicht die Hochkultur der monumentalen Töne-Schmetterns, eines Verdi´schen Triumphmarsches oder der Monumentalmusik von Wagners „Götterdämmerung“, welche wirklich großes Theater ausmacht; nein es ist eher ein Werk der Besinnung, wie dieses „Cabaret“, welches zwar mit bekannten Shownummern, aber sonst still und wortstark ankommt. Ein beinah Strindberg´sches Kammerspiel hat Werner Pichler hier einfühlsam und werktreu auf alte konservative Art und Weise inszeniert. Böse Zungen würden sagen „vom Blatt inszeniert“, aber genau das ist es! Das Stück ist so gut und die Texte so nachhaltig, daß

Ingeborg Wolff (links), Andreas Ramstein (Mitte) - Foto: Wuppertaler Bühnen
alle Dreingaben, Mätzchen, Aktualisierungen oder Holzhammer-Einfälle die Erzählstruktur zerstören würden. Ein solches Stück fordert hohe Empathie vom Regieteam und nicht Selbstverwirklichung mit abgefahrenen Plattitüden und Bildern. Der Regisseur kann sich auf seine Darsteller verlassen; hier gibt es noch Schauspielkunst, die ohne Geschrei unter die Haut geht; und mit der sich das Publikum identifizieren kann. Das gerade renovierte Wuppertaler Opernhaus ist ein kleines Haus - bietet aber als Drei-Sparten-Bühne Theater vom Feinsten.
 
Sich mal einzig und allein auf ein gutes Stück zu verlassen, klappt und überzeugt nur, wenn man ein so tolles Ensemble hat. Hier gilt´s noch der Kunst, möchte der Kritiker rufen, der Sprechkunst, die wir in den großen Theatern ach so oft verloren haben! Und wer die „Grand Dame“ des Wuppertaler Schauspiels Ingeborg Wolff (Fräulein Schneider) oder den großartigen Andreas Ramstein (Herr Schultz) erleben darf, welche die große Schauspieltradition einer Flickenschild oder eines Gründgens noch am Leben erhalten, der darf sich noch richtig freuen. Und wenn es auch noch so prächtig auch auf der musikalischen Ebene ergänzt wird, wie von Christian Sturm (Conferencier), Judith Jakob (Sally Bowles) und von dem wunderbaren Tanzensemble (Choreografie: Rosita Steinhauer) realisiert, dann erlebt selbst der abgebrühteste Kritiker einen großen, bewegenden Abend.
 
Ich habe schon unzählige Fassungen von „Cabaret“ erlebt und durchlitten, mal gelangweilt, mal mit zuviel Show-Elementen übermusikalisiert, mal übernazifiziert und allzuoft von unsensiblen Darstellern verschauspielert, doch bei dieser Inszenierung stimmt alles auf den Punkt. Insbesondere die

Olaf Haye, Andreas Möckel, Juliane Pempelfort
Foto: Wuppertaler Bühnen
Kern-Szene „der morgige Tag ist mein…“, in der exemplarisch gezeigt wird, wie ein auf den ersten Blick "harmloses" Volkslied innerhalb von Sekunden subkutan zu einem übel bedrohlichen Nazi-Song wird, ist beängstigend real.
Christian Sturm ist der allgegenwärtige Conferencier, eine Art unsichtbarer Spielleiter und Handlungsträger, dem es geradezu mephistophelisch gelingt die Übergänge von den Sprechszenen zu den Musiknummern grandios einzufädeln. Judith Jakobs (Sally) hat genau die richtige Stimme, um in dieser größtenteils ins Deutsche übersetzten Musikszene mit den berühmten Songs zu glänzen, ohne allzu viel falschen und unangebrachten Broadway-Glitter zu produzieren. Olaf Haye als Clifford Bradshaw hat nicht nur optisch eine verblüffende Ähnlichkeit mit dem großen Hollywood Star Joseph Cotton, eine perfekter Besetzung. Und wenn die große Ingeborg Wolff rührend aber bestimmt ihr spätes Verhältnis mit nachvollziehbaren Gründen wieder aufkündigt, dann sind wir der politischen Realität des Dritten Reiches verdammt nahe.
 
Ein Stück für die ganze Familie, mit nachhaltigem wichtigen Diskussionsbedarf. Hier ist an einem Abend für Ihre Kinder und Enkel viel nachzuholen, was die Schulen in über 13 Schuljahren leider immer noch regelmäßig bewußt oder unbewußt versäumen. Ich spreche da aus umfangreicher eigener Erfahrung.
 Bitte Hinfahren! Die Wuppertaler können wirklich stolz auf ihr tolles Theater sein.
 
P.S. Für Bond-Fans: Die britische Erstaufführung fand am 28. Februar 1968 im Londoner Palace Theatre statt. Die Rolle der Sally Bowles wurde damals mit überwältigendem Erfolg von Judi Dench (M) gespielt.
 
Weitere Informationen unter: www.wuppertaler-buehnen.de