Der Walsertag
Mein Elfenbeinturm ist ein feuchter Keller. Eines der großen Kulturereignisse des Jahres 2009 war für mich die Nachricht, daß der 82-jährige Martin Walser am 17. Oktober 2009 aus einem Cafe in Konstanz geschmissen wurde. Das stimmt. Er saß mit Frau und Freunden im Café Wessenberg und hatte wohl in dem Nichtrauchercafé eine Zigarette angezündet und war daraufhin des Ladens verwiesen worden. Er muß dabei die Bedienung verbal angegriffen haben und war dann mit seinen Begleitern wutentbrannt aus dem Cafe geschlichen. Wie konnte das geschehen? Was war in dem Cafe vorgefallen? Zeigt sich nicht an diesem Vorfall, wie unser täglicher Umgang immer mehr von Gesetzen bestimmt wird und Konflikte unvermeidbar scheinen? Ich stelle mir den ganzen Tathergang so vor: Der Großdichter und Schriftsteller Walser zündet sich also eine Zigarette an. Die Bedienung, Michaela Mädel (31) schaut hinter der Kaffeemaschine hervor. Sie trocknet ihre Hände ab und läuft zu Walsers Tisch. Michaela Mädel wird dann gesagt haben: „Ich möchte sie höflichst darauf hinweisen, daß in diesem Restaurant nicht geraucht werden darf.“ Walser schaut auf, er war vertieft gewesen, hatte sich vielleicht Gedanken gemacht wie: „Die Welt verschwindet vor meinen Augen“. Walser schaut also auf, schweigt noch, weil er nicht wirklich erkennt, daß er gemaßregelt wurde. Die Bedienung, Michaela Mädel, verdreht schon genervt die Augen, was Walser immer gehaßt hat, wenn ihn ansprechende Personen genervt die Augen verdrehen, und dann sagt sie entschlossen ungehalten: „Ich möchte sie nochmals daran erinnern ihre Zigarette auszudrücken oder wenigstens so fair zu sein, damit vor die Tür zu gehen, da wir Kinder unter den Gästen haben. Draußen haben wir einen Tisch hingestellt. Dort können sie ihren Neigungen nachgehen.“ Walser sitzt zusammen mit Frau und Freunden. Er schaut sich um. Vielleicht nimmt Walser erst jetzt die Bedienung als Bedrohung wahr. Vielleicht wird ihm auch jetzt erst bewußt, daß er eine Zigarette raucht. Er weiß, er darf nicht übertrieben reagieren, er ist Martin Walser, da ruft die Bedienung auch noch „Moment“ zu einem anderen Kunden, der schon seinen Mantel angezogen hat, weil er bezahlen möchte. Die Situation ist gespannt. Walser haßt es, wenn alles immer drunter und drüber geht. Er sagt später, er wolle sich nicht mehr an diesen Abend erinnern. Er sei wohl nicht in bester Verfassung gewesen. Die Bedienung Michaela Mädel ist gelernte Hotelfachkraft und seit mehr als sechs Jahren in dem Cafe Wessenberg tätig. Sie sagt: „Ich hatte Herrn Walser zu dem Zeitpunkt gar nicht erkannt. Ich lese nur Kochbücher.“
Walser schaut unter seinem Hut hervor und zischt: „Wissen Sie überhaupt, wer ich bin?“ Walser hat gerade bei den Baden Württembergischen Literaturtagen aus seiner Novelle „Ein lebender Mann“ gelesen. Er ist nicht zufrieden gewesen, man hat ihn angeschaut wie einen Außerirdischen. Der 82-jährige Schriftsteller ist nach der Lesung und dem Signieren seiner Bücher mit seiner Frau und seinen Freunden in diesem Restaurant verschwunden, anscheinend hat er vergessen, daß ihn dessen Wirt, Anselm Venedey, schon einmal vor fünf Jahren gebeten hatte, das Restaurant zu verlassen. Damals habe der Autor, so Wirt Anselm Venedey, Gastronom und Freie-Wähler-Stadtrat, eine Bedienung beleidigt. Venedey selbst ist aber diesmal nicht bei dem Vorfall anwesend gewesen, da er, so Venedey, das Lokal verlassen habe, als er Walser habe kommen sehen. „Ich wollte Streit vermeiden.“ So ging mein kultureller Höhepunkt des Jahres 2009 aus. Der Einbruch der Wirklichkeit als echte Walsergeschichte. Was kann man daraus für Lehren ziehen? Ich gastierte selbst kürzlich in Konstanz und begab mich an den Ort der Widerworte. Ich wollte am eigenen Leibe erfahren, was Walser widerfahren war. Ich fragte gleich nach dem berühmten Tisch, an dem Walser am 17. Oktober 2009 gesessen hatte. Die Bedienung, ich weiß nicht, ob es Michaela Mädel war, wies mich an einen Tisch, der direkt am Fenster stand. Es war kein besonderer Tisch, keine Tafel erinnerte an das Ereignis. Ich setzte mich auf den Stuhl und kramte meine Zigaretten aus der Tasche. Ich hatte gerade eine Zigarette angezündet, als die Bedienung auf mich zueilte und sagte: „Dies ist ein Nichtrauchercafe. Hier wird nicht geraucht, da mögen sie Walser sein oder sonst wer.“ Ich hatte genug erfahren. Ich habe an dem Tag einen Verein gegründet. Wir haben unser Ziel nur dem Erinnern an Martin Walser und seinem Einsatz für die persönlichen Freiräume gewidmet. Wir fahren nun jedes Jahr am 17. Oktober, dem Walsertag, nach Konstanz und lassen uns mit brennender Zigarette aus dem Café Wessenberg schmeißen. Das wird berauschend. Hauptsache wir spüren, daß wir noch leben. Wir sind nicht Walsers uneheliche Kinder, aber wir sind auf seiner Seite, egal ob er im Recht ist oder nicht. Hallo, ich meine wir reden hier von Martin Walser und der Welt in der wir leben. Dies sind meine Erinnerungen an die kulturellen Höhepunkte des Jahres 2009. Ich meine, es kann alles nur noch besser werden. Wir sind hier, um die Welt zu einem besseren Ort zu machen, da gibt es bestimmt auch 2010 noch viel zu tun.
© 2010 Erwin Grosche
|