Winterberg

Erinnerungen

von Friederike Zelesko

Foto © Joujou / pixelio.de


Winterberg


Man läßt den Winter sich noch gefallen.
Man glaubt, sich freier auszubreiten,
wenn die Bäume so geisterhaft,
so durchsichtig vor uns stehen.
Sie sind nicht, aber sie decken auch nichts zu.
(Goethe)

    Das Naturfreundehaus liegt am Fuß eines Hanges wo sich Kinder im Schnee tummeln. Ein einfaches Haus, wie eine Skihütte. Hüttenstimmung beginnt schon mit der Dekoration am Eingang. Der Herbergsvater ist ein gemütlicher Endvierziger. Ein Tresen, wo es Getränke gibt und die Getränkestrichliste. Es riecht schon nach Mittagessen. Ich hatte mich für das Seminar „Stressbewältigung“ angemeldet.
 
Was hat mir Kraft geraubt?
Was hat mir Kraft gegeben?
Was brauche ich noch mehr?
 
Fragen, die sich wie von selbst beantworten inmitten einer Winteridylle?

Die Lichtungen der Hügel sind herrlich verschneit, gleißen in der Sonne. Ein schöner Kontrast, die dunklen, schwer mit Zapfen behangenen Nadelbäume, ungewohnte Schwarzweißbilder
 
Der Spielplatz auf der Wiese vor dem Haus ist leer. In den Schnee gebettet, hat ihn das Kinderlachen verlassen.  Die Wippe ragt einsam in den Himmel. Auf dem Klettergerüst hängen Eiszapfen. Minusgrade lehnen sich an die Fensterscheiben, erzeugen Winterbilder. Wir kratzen sie ab.
 
Stressbewältigung im Seminarraum.
 
Das Positive steht dem Negativen gegenüber. Sichtweise auf die ureigensten Dinge des Menschen. Platzwunden in der Kindheit. Die Narben schmerzen noch:
 
Keine Schneeflocke gleicht der anderen. Sehe ich viele zusammen, wie sie eine Haube bilden, auf Zäunen, Dächern und Holzstößen liegen, weiß ich noch nichts von ihren Formen, Prismen, Nadeln und Säulchen. Sanft breitet sich ein weißes Tuch über den Berg. Ich werde von dem Berg reden müssen und von dem Dorf, das man von der Landstraße nach St. Pölten nicht sieht. Es verbirgt sich in einer Mulde hinter dem Berg. Immer wieder kehre ich zurück zu dem Berg. Mit einer Geste, oder einem Blick. Mit einem Lächeln oder einer Umarmung. Noch weiß ich nichts von den sechseckigen Schneekristallen, die an feinste Häkelarbeiten erinnern. Ich habe kein Mikroskop. Nur was ich sehe weiß ich. Den Berg, die Straße, die gerade und steil hinaufführt und oben angelangt, schnell nach links abbiegt. Noch einige hundert Meter am Bergrücken entlang wandert. Dann erblicke ich rechts den ersten Hof. Die Scheune begegnet mir. Triefend vor Nässe steckt sie im Schnee. Schwarz droht mir im Winter das graue Sommerholz. Doch der Gedanke an das trockene Heu und Stroh darin versöhnt mich. Die Scheune mag ich nur im Sommer. Die Bäume auch im Winter. Die Birnbäume und Apfelbäume sind bis zu ihrem Kragen in Schnee gehüllt. Sie sind klein, wachsen vielleicht erst ein Jahr. Manchmal regt sich ein Ast bei einem Laut. Dann rieselt ein weißer Hauch als Antwort in die darauf folgende Stille. Die Stille folgt mir entlang der Wohngebäude mit den zugefrorenen, winzigen Fenstern. Sie sind nackt ohne Blumenkästen. Die Zwiebeln und Knollen der Blumen lagern warm hinter den dicken Mauern im Sand. Die Stille wartet mit mir. Immer geht sie im richtigen Augenblick fort. Wenn ich an der kleinen Kapelle vorbeigehe und der Hund anschlägt. Wenn ich in das Dorf einbiege und der Bauer die Milchkannen von der Plattform nimm, scheppernd und leer. An der Biegung der Straße steht der große Lindenbaum. Er steht neben dem Tor des ersten Hofes und gegenüber dem Tor des zweiten Hofes. Unter der breiten Krone der Linde sehe ich jetzt weiter unten das Tor des dritten Hofes. Breitbeinig in die Mauern gehängt bewachen die geschlossenen Tore die Winterruhe der Vierkanthöfe. Den ganzen Sommer stehen sie offen, unterwerfen sich der Geschäftigkeit der erntenden Bauern. Wenn ich die Dorfstraße hinuntergehe und am vierten Hof vorbeikomme, sehe ich das kleine Haus, in dem ich mit meinen Eltern und drei Geschwistern wohne. Es liegt ganz unten in der Mulde. Keine Straße führt hin. Nur ein schmaler, verschneiter Wiesenweg, der vor der Gartentür endet. Ich öffne die Gartentür. Sie schwingt ein paar Mal hinter mir. Als Angeln sind dicke Lederriemen angenagelt. Es gibt keine Türklinke, kein Schloß. Die Stille ist mit mir mitgegangen. Hinter dem Haus, das auf einem kleinen Hügel gebaut ist, in dem sich der Mostkeller eines Bauern befindet, beginnt der Edelgraben. Er ist die Rinne zwischen der Welt vor und hinter dem Berg, der Jahr für Jahr die Schneeschmelze übersteht.

 
© Friederike Zelesko – Erstveröffentlichung in den Musenblättern 2010