Ein Maler der Stille

Georges Seurat - "Figur im Raum"

von Sabine Kaufmann
Kontemplative Bildträume
Georges Seurat - Figur im Raum

Eine Ausstellung
in der Frankfurter Schirn Kunsthalle



Eine Empfindung ergreift schon beim ersten Schweifen des Auges durch diesen geschmackvoll zusammengestellten und 
hervorragend kommentierten Katalogband unmittelbar Besitz vom Betrachter - und manifestiert sich beim wiederholten Anschauen: Georges Seurat ist ein Maler der Stille. Alle seine Bilder - sogar die "lauten" - sind leise. Dieses Oxymoron ist schnell erklärt: in den wenigen im Buch wiedergegebenen Graphiken, Gemälden und Kreidezeichnungen, die geräuschintensives Tun wie eine Zirkusvorstellung mit Pferden, einen Arbeitsprozeß mit schweren Werkzeugen oder eine Maschine (z.B. eine Lokomotive im Fahrbetrieb) darstellen, tritt das während des Malprozesses vorhanden gewesene Geräusch von Menschen, Tieren, Instrumenten oder Geräten völlig in den Hintergrund. Georges Seurat malt das Substanzielle, die Stille. 

Verharren im Moment

Un Dimanche à la Grande Jatte (1884-86)

"F
igur im Raum" haben die Herausgeber des für die Ausstellungen im Kunsthaus Zürich (bis 17.1.) und in der Schirn Kunsthalle Frankfurt/Main (dort vom 4.2. - 9.5.2010) konzipierte, reich illustrierte Buch betitelt - ein Hinweis auf die in Seurats Bildern überwiegend in Ruhe verharrenden Darstellungen von Menschen. Doch selbst die bewegten wie eine Zirkusreiterin (1891), ein Steineklopfer (1879-81) oder ein Mäher mit Sense (1881/82) scheinen innert ihrer Bewegung mit der Zeit und dem Raum zu verschmelzen. Der Pointillist Seurat, dessen "Un dimanche à la Grande Jatte" (1884-86) zum Programmbild des Pointillismus wurde und ihn noch vor Paul Signac zum Protagonisten dieser revolutionären impressionistischen Bewegung machte, hatte als akademischer Maler alle Grundlagen der klassischen Malerei. Ein Meister mit der Zeichenkreide schuf er geradezu hingehauchte Studien von Damen mit Blumenstrauß, Regenschirm oder Angel, hielt Arbeitsvorgänge wie das Ährenlesen, Clowns im Zirkus oder den Straßenbau fest und dokumentierte die Fortbewegung mit Dampfschiff, Droschke und Eisenbahn. Die penibel hingetupften, luftdurchlässig wirkenden Pointillismen sind festgehaltene Augenblicke. Menschen scheinen im dem Moment, ihrem Moment zu verharren, ja selbst die auf dem Pferderücken im Galopp spitzentanzende Artistin in der Manege und ihr saltierender Kollege sind wie in der rasanten Bewegung erstarrt, als habe man die Zeit angehalten. Die Menschen im Publikum, an Ufern von Seen, Kanälen und Flüssen, an Küsten, auf der Straße und auf dem Feld sind auf sich selbst konzentriert, eine jeder und eine jede in ihrem eigenen kleinen Universum.

Ausatmen

W
ichtig scheint Seurat eher das Ausatmen als das Einatmen. Ich habe beim Anschauen der Bilder

Le Chenal de Gravelines: Grand Fort Philippe, 1890
stets das Gefühl, nur ganz leise meinen Atem bewegen zu dürfen, um die Ruhe, die Windstille nicht durch einen zu lauten Seufzer oder Schnaufer zu sabotieren. Zugleich überkommt mich wohltuend eben diese den Bildern entströmende Stille. "Un Dimanche..." ist von beinahe hypnotischer Wirkung. Stumm liegen und sitzen Menschen im Gras, nahe beieinander, doch jeder für sich. Geräuschlos gleiten Segelboote und Schiffe vorbei, entschwinden dem Blick oder liegen vertäut am ausgestorbenen Pier. "Le Chenal de Gravelines", "La `Maria´, Honfleur", "Port en Bessin" und vor allem mein Lieblingsbild, das 1890 entstandene, kompromißlos reduzierte "Arbres et bateaux" lassen das intensiv empfinden. Wilhelm Genazino hat in seinem Essay eine wunderschöne Formulierung gebraucht: daß nämlich "die Schönheit eines Bildes - trotzt Abwesenheit von Kontur - durch Irritationsabwesenheit erkauft" sei. Beleg dafür, wie recht er (er bezieht sich dabei u.a. auf Monet) damit bei Seurat hat, sind dessen kontemplative Bildträume.


La Pêcheuse à la ligne (1884)
Georges Seurat (1859-1891) wurde nur 32 Jahre alt. Das Katalog-Buch ist über die Ausstellung hinaus ein grundlegendes Werk zur Technik und Wirkung seiner Zeichnung und Malerei geworden.
Die Ausstellung in der Frankfurter Schirn Kunsthalle wird am 4. Februar 2010 eröffnet.

Georges Seurat - "Figur im Raum", © 2009 Hatje Cantz Verlag/Kunsthaus Zürich, 152 Seiten, geb. m. Schutzumschlag, 24 x 28,6 cm, 133 farbige u. Duotone-Abb., Textbeiträge von Christoph Becker, Gottfried Boehm, Julia Burckhardt, Michelle Foa und Wilhelm Genazino, 39,80 €(D), 69,- sfr (CH)


Weitere Informationen hier und unter:

www.hatjecantz. de  -  www.kunsthaus.ch  -  www.schirn-kunsthalle.de