Ein Thriller der Güteklasse A!

Jussi Adler Olsen - "Erbarmen"

von Frank Becker
Spannung auf hohem Niveau

Kein Roman für ungeduldige Leser mit schwachen Nerven, kein flotter Krimi mit smarten Detektiven, die alles locker im Griff haben, keine seichte Nachmittags-Lektüre für "nebenher". Jussi Adler Olsens Thriller "Erbarmen" ist Lektüre, deren Sog den Leser unaufhaltsam in die mehrschichtige Handlung hineinzieht, unmittelbar fesselt, mit dem Grauen in Gestalt menschlicher Erbarmungslosigkeit konfrontiert und nicht losläßt, bis man das Buch nach Seite 417 atemlos aus der Hand legt. Brillante Unterhaltung zum einen, durch die Wahl des Sujets aber auch die Begegnung mit der dunklen Seite.
Wäre es ein Film, würde man sich vermutlich an die Sessellehnen klammern, bis die Fingerknöchel weiß werden.

Carl Mørck, Mordermittler der Kripo Kopenhagen, ist durch das traumatische Erlebnis einer Schießerei, das einen Kollegen das Leben kostete und einen anderen gelähmt ans Bett fesselt, ein unbequemer, schwer zu führender Kollege geworden. Seiner Verdienste wegen wollen und können ihn seine Vorgesetzten nicht entlassen oder maßregeln, also wird er "befördert" - zum Leiter des neu ins Leben gerufenen Dezernats Q, das alte ungelöste Fälle von öffentlichem Interesse wieder aufnehmen soll. Das "Dezernat" im Keller des Polizeigebäudes allerdings besteht nur aus Mørck selbst und einem Bürohelfer, dem libanesischen Immigranten Hafez el-Assad. Der entwickelt sich schnell zum unverzichtbaren alter ego des eigenwilligen und sturen Vize-Kommissars
Mørck. Gemeinsam öffnen sie die abgelegten Akten zum Fall der Folketing-Abgeordneten Merete Lyngaard, die fünf Jahre zuvor spurlos von der Fähre Rødby/Puttgarden verschwunden war. Die Spuren führen in den Norden Sjællands, wo sich zwischen Kopenhagen und Tisvildeleje ein nervenzehrendes Drama abspielt - und die Zeit läuft ab.

Der Leser wird nicht im Unklaren darüber gelassen, daß die Frau keineswegs tot ist, sondern sich seit ihrem Verschwinden, das eine Entführung war, in der Gewalt von Leuten befindet, die sie unter grausamsten und erniedrigendsten Umständen in einem völlig isolierten Raum gefangen halten. Man erlebt sowohl ihren Kampf gegen die erbarmungslose seelische Vernichtung mit, wie parallel dazu die zähen Ermittlungen
Mørcks und Assads gegen die Widerstände von Bürokratie und Mißtrauen, die einen Vorgang aufdecken, der die Kälte menschlicher Niedrigkeit bis ins Mark dringen läßt. Jussi Adler-Olsen baut ungeheure Spannung auf, welche nicht nur die Aufmerksamkeit des Lesers ohne je abzusinken auf hohem Niveau fesselt, sondern darüber hinaus für ein immer tiefer gehendes menschliches Mit-Leiden sorgt.

Bis zur wörtlich letzten Seite kann Adler Olsen die Spannung halten. Es wäre ein Sakrileg, hier mehr dazu zu sagen. Mit den Figuren Mørcks und Assads hat Adler-Olsen ein Gespann geschaffen, das noch für viele neue Fälle gut ist (einige hat der Autor bereits geschrieben, das nächste Buch in deutscher Sprache "Schändung" ist bei dtv angekündigt). Bei aller Härte des Stoffes läßt Adler-Olsen auch grimmigen Humor durchschimmern und zeichnet die Charaktere seiner Figuren und ihr persönliches Umfeld nachvollziehbar. Ein Thriller der Güteklasse A!
Dafür die Musenblätter-Auszeichnung: den Musenkuß!

Beispielbild

Jussi Adler Olsen
Erbarmen

Thriller
Aus dem Dänischen von Hannes Thiess

© 2009 dtv premium,
417 Seiten, Broschur, ISBN 978-3-423-24751-1
14,90 € [D] 15,40 € [A]  - 24,90 sfr
 
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