Wintermorgen mit Schwimm-Fantasien

von Karl Otto Mühl

Foto © Frank Becker
Wintermorgen
mit Schwimm-Fantasien
 

Vielleicht ist es der Schnee draußen, vielleicht ist es aber auch das eigene Gemüt – jedenfalls kommt der Morgen sehr langsam und mühsam voran. Nur ab und zu betritt ein Kunde in die kleine, stille Bäckerei, in die sechs bis acht Kaffee trinkende Leute passen würden. „Ein größerer Raum“, sagte die Haupt-Bäckerin einmal, „daran denkt man schon mal. Aber vielleicht würde dann auch die Atmosphäre verloren gehen.“.
So schnell wird sich hier nichts ändern. Wir sind sicher inmitten der langen Zeilen von grauen, mehrstöckigen Wohnblocks. Zehntausende Menschen wohnen hier, aber sie scheinen nur wenige Kundschafter auszusenden. Diese Blöcke umgeben und schützen uns so, wie es die Mauern Babylons zur Zeit Nebukadnezars getan haben müssen. Sie türmen sich auf als Schutzwall, aber sie schaffen auch Isolation.. Nirgendwo sind andere Geschäfte zu sehen, durch die diese graue Welt bunter würde. Nicht einmal ein Kiosk, einer von den Kaufpalästen der ärmer werdenden Leute.
 
Manchmal stehen einige Männer draußen vor dem Schaufenster, mit dem Kaffeebecher in der Hand. Andere stehen da, weil sie rauchen wollen. Dazu gehört auch eine muntere, mobile Pflegeschwester, der die Zigarette schmeckt. Ich hoffe, sie weiß, wie sie später vielleicht gepflegt werden muß, denke ich - aber das ist kein wirklich mitmenschlicher Gedanke. Ich schiebe ihn mit Abscheu beschämt beiseite.
 
Ein Bus mit strahlenden Scheinwerfern brummt draußen vorbei. Die Straße ist schmal, manchmal weicht ein entgegenkommendes Auto erschrocken in eine Lücke zwischen den Schneewehen aus.
 
Eine der älteren Bäckerinnen schiebt das Gerüst-Blech mit den unfertigen Brötchen in den Backofen. Eigentlich müßte ich mich in dieser sich dahin schleppenden Stunde sicher vor Tod und Bedrohung fühlen. Schließlich kann ich mir nicht vorstellen, wie sie in die Winterstille eindringen sollten. Freilich, das braucht es nicht, ich werde den Gefahren entgegen laufen; spätestens in einer Viertelstunde wird es mich hinaustreiben - die Börse rasch in die Gesäßtasche geschoben, die Zeitung schmal gefaltet in der Innentasche des plusterigen Mantels.
 
Schließlich hält es mich nicht länger hier. Das Auto mahlt sich durch den Schnee, stolz besiegt es knirschende Hindernisse. Das Schwimmbad, heute ebenfalls still und gedämpft, begrüßt mich mit schweigender Freundlichkeit, das Umkleiden beginnt. Der Duschraum ist leer, ich wärme mich als einziger unter der Dusche auf.
 
Als ich bedächtig ins Becken steige, weiß ich es: Ich bin nur auf Urlaub hier. Bisher davongekommen. D. tat es nicht, Freddy, Zweiundachtzig, auch nicht, der unvergeßliche Fritz, Zweiundneunzig, der noch wenige Tage vor seinem Tod bedächtig seine Längen schwamm, er auch nicht. Wolfram, Vierundneunzig, kommt noch täglich, das müßte einem doch ein Gefühl der Sicherheit geben. Aber die Welt bleibt unheimlich. D. kam ja auch täglich, aber er mochte nicht schwimmen, dafür ging er täglich in die Sauna. Nie lebensgefährlich lange, das war bekannt, aber manche meinten, es sei eher der Alkohol gewesen. Auch hier kommt mir ein sonderbarer Gedanke: Er starb auf seinem Balkon den Sekundentod, das beweist doch, daß Alkohol segensreich sein kann. Was ist schöner als ein rascher Tod!
 
Wie ich ohne Langeweile schwimme, habe ich mir schon einmal aufgeschrieben. Es gelingt mir auch meistens. Einfach nur ständig die eigene Position, den Rhythmus, den gefühlten Widerstand in den Armen, dies alles immer wieder kontrollieren, das läßt alles andere vergessen.
Aber heute brauche ich nicht einmal das zu tun. Fantasien nisten sich ein, sie machen sich selbstständig, nehmen sich Zeit, scheinen den Rhythmus zu genießen.
 
Zuerst fallen mir die Krankenbesuche der letzten Zeit ein, und eine Instanz in mir zieht eine peinlich klingende Bilanz: Diese Besuche sind eine der wenigen Aktivitäten, die ausdauernd das Gefühl hinterlassen, keine Zeit verloren, sondern sie im Gegenteil gewonnen zu haben. Und das Empfinden, soeben etwas von dem Kranken geschenkt bekommen zu haben. Klingt beängstigend moralisierend, denke ich, du Gutmensch. Gib doch zu, daß du auch froh bist, jedesmal heil aus diesem Krankenhaus herauszugehen. Vielleicht bist du sogar stolz auf dein Rezept: Kraftgewinn durch den Besuch der Elenden.
 
Die nächste Fantasie taucht auf, während ich durch das Wasser schnaufe, am Beckenrand das Wasser wieder aus der Nase läuft, die Schwimmbrille vom Beschlag frei gewischt werden muß. Es ist der Gedanke an ein ewiges Leben. Die Prostata vergrößert sich ab einem bestimmten Alter nicht mehr, hat mir einmal ein Arzt gesagt – wie nun, wenn man eine Pille erfände, die den Alterungsprozeß bei  Sechsundvierzig stoppt? Du stirbst nie! Alle wissen, daß sie niemals sterben, wenn nicht irgendwelche häßlichen Sachen, zum Beispiel Krieg, dazwischen kommen.
Was würden die Leute tun? Ich weiß es: Täglich wären die Zeitungen voll mit Berichten von Selbstmorden. Also: Es lebe der Tod.
 
Sechshundert Meter habe ich schon geschafft, da kommt noch eine Fantasie, nein, eine Revue von Fantasien, das soziale Diskussionsthema der letzten Wochen. Es bohrt schon länger in mir, Demütigung regt  mich auf:
Eine Putzfrau reinigt den Konferenzraum, die Gäste sind gegangen. Da steht ein Tablett mit den restlichen fünf Brötchen, darunter eines mit Mett und Zwiebeln, ihre Leibspeise. Sie kann nicht widerstehen, sie greift zu – aber vom Eingang aus hat sie ein Bereichsleiter beobachtet. Die geneigten Leser kennen die Folgen, die Frau wird entlassen.
So ergeht es auch einer Fabrikarbeiterin, die eine Klorolle mit nach Hause nimmt. Es ist zu spät zum Einkaufen, und die Rolle da ist so bequem zur Hand.
Die beiden und viele andere erleben Ähnliches, sie werden davongejagt wie Landstreicher. Plötzlich sind sie noch ärmer als zuvor, verachtet, beschämt vor ihren Angehörigen und Nachbarn, vielleicht ohne Zukunft auf dem Arbeitsmarkt.
 
Und jetzt macht sich meine Fantasie einen Spaß. Sie zeigt mir Bilder, wie ein Prokurist ein Brötchen nimmt – die Gäste sind schon gegangen, wohlgemerkt. Keiner der anderen Herren beachtet es. Bei X., im mittleren Management, sagt Y. vom Vorstand: Da kann man nicht widerstehen, nicht wahr.
Schmeckt wunderbar, sagt der Personal-Chef zur Buchhaltungsleiterin, nehmen sie nur. Morgen schmecken sie nicht mehr.
Da könnte noch mancher aus Schichten und Ständen vorbeitänzeln, jedem von ihnen könnte es anders ergehen als den Opfern, die entlassen werden.
Freilich sagt die Vernunft, man kann nicht alles durchgehen lassen. Richtig, sagt eine Instanz in meiner Fantasie, aber Davonjagen verstößt gegen die Menschenwürde. Es könnte ja auch einmal einer mit Abitur dabei sein.
 
Aber es gibt auch eine ausgleichende Gerechtigkeit, sagt die Instanz. Die Herren vom Vorstand werden vor Gericht gezerrt, wenn sie bestechen, um Aufträge hereinzuholen. Da hilft es nichts, wenn sie darauf hinweisen, daß man vor einigen Jahren Bestechungsgelder sogar von der Steuer absetzen konnte.


© Karl Otto Mühl - Erstveröffentlichung in den Musenblättern 2010