Ich gehe manchmal in einen Kreis

von Hanns Dieter Hüsch

© André Poloczek - Archiv Musenblätter
Ich gehe manchmal in einen Kreis
wo jeder alles besser weiß
ich rühre in meinem Tee
und sage: ok, Freunde, ok.
 
Ich gehe auch manchmal in eine Gruppe
eine sich höchst emanzipierende Truppe
da trink ich ein Bier
und sage: schön bei euch hier, schön bei euch hier.
 
Ich geh auch schon mal auf einen Kongreß
so mit Themen wie Zeitangst, Infarkt und Streß
wo ich nach jedem Referat aufsteh und sag:
welch ein herrlicher Tag, welch ein herrlicher Tag.
 
Ich sehe auch manchmal Herren aus Bonn
aber ich laufe nicht gleich davon
sondern geh auf sie zu, um ihre Hand zu brechen
und sage: ich bin nicht zu sprechen, ich bin nicht zu sprechen.
 
Ich geh auch manchmal in ein Konzert
mit Werken von Kaufmann und Engelbert
und sag der Garderobenfrau nach Ablauf der Zeit:
es hat mich außerordentlich gefreut, es hat mich außerordentlich gefreut.
 
Ich geh auch manchmal in ein Nachtlokal
und motivier das mit dem Brechtschen Baal
denn morgens so gegen vier - steh ich völlig neben mir,
steh ich völlig neben mir.
 
Ich geh auch manchmal in einen Tumult
da gibt jeder jedem die Schuld
ich sage: Kinder Kinder - mehr sag ich nicht
denn ich habe schon eine Faust im Gesicht.
 
Ich steh auch schon mal an meiner Mutter Grab
die ich vor Jahren begraben hab
und sage: du bist schon da und ich bin noch hier ­-
ich bin gar nicht zufrieden mit mir.
 
Ich steig von Zeit zu Zeit in einen Zug
und sage nach fünf Stunden: jetzt ist's genug
bleib aber weitere acht Stunden sitzen
und sehe zehntausend Kühe und zehntausend Kirch­turmspitzen.
 
1977


© Chris Rasche-Hüsch
Veröffentlichung aus dem Band "Den möcht´ ich seh´n"
in den Musenblättern mit freundlicher Genehmigung