Die hohe Kunst, Oper zu inszenieren

Vera Nemirova bereitet in Bonn einen wunderbaren „Liebestrank“

von Peter Bilsing


Vera Nemirova bereitet einen wunderbaren „Liebestrank“
 
Über die Leichtigkeit (des Seins) brillant Oper zu inszenieren
Gaetano Donizettis "Der Liebestrank" - Premiere Bonn 7.März 2010
 
Inszenierung: Vera Nemirova - Musikalische Leitung: Christopher Sprenger - Bühne und Kostüme: Werner Hutterli – Fotos: Thilo Beu
Besetzung Adina: Julia Novikova (19.3., 30.3., 18.4., 24.4.) /Sigrún Pálmadóttir (13.3., 9.4.)
Nemorino: Tansel Akzeybek (19.3., 30.3., 18.4.) / Mirko Roschkowski (13.3., 9.4., 24.4.)
Belcore: Giorgos Kanaris (13.3., 30.3., 18.4.) / Lee Poulis (19.3., 9.4., 24.4.)
Dulcamara: Ramaz Chikviladze (13.3., 19.3., 9.4., 18.4., 24.4.) / Martin Tzonev (30.3.)
Gianetta: Susanne Blattert
Chor des Theater Bonn - Beethoven Orchester Bonn

Sport ist Mord - Foto © Thilo Beu
 
Hervorragend bis ins Detail

Ich habe selten etwas Intelligenteres über Donizettis Meisterwerk gelesen, als Vera Nemirova es für das Programmheft der Bonner Oper zusammenfassend formuliert hat. Daß es darüber hinaus auch noch einen mehrseitigen Originalbeitrag von Corinna Tetzel im selben Heft gibt, erfreut nicht nur den Kritiker. Das ist nicht der Alltag. Die wunderbaren Farb-Photos von Thilo Beu, einem der letzten wirklich guten, traditionellen Theaterfotografen, machen das kleine Programm-Heftchen zum richtigen Kleinod. Ein Minimum an Erinnerungssouvenir, welches sich Freunde dieser wunderbaren Operninszenierung aus Bonn mit nach Hause nehmen sollten. Soviel vorweg zu einem perfekten Programmheft!
 
Ausnahmsweise fange ich einmal mit dem Chor an. Nicht nur weil er von Chorleiter Ulrich Zeppelius perfekt vorbereitet wurde, sondern weil die Damen und Herren ihre tragende Rolle in dieser Meisterinszenierung sowohl darstellerisch, als auch choreografisch im Sinne eines Bewegungschores grandios erfüllten. Was für ein Chor mit darstellerischen Individualisten, wenn es darauf ankommt. Mit Haut und Haar sind die Herrschaften dabei und bringen sich ein, als wären sie samt und sonders Hauptdarsteller in einem großen Luis-de-Funès-Film oder vom großen Jacques Tati persönlich eingearbeitet, tatsächlich bei den „Ferien des Monsieur Hulot“ dabei. Ich habe wirklich selten einen Chor erlebt, der dermaßen überzeugend agiert – wir haben Tränen gelacht. Man müßte es eigentlich filmisch archivieren. ARTHAUS! Eilt herbei – es lohnt sich!
 

Kostbare Flasche! - Foto © Thilo Beu
Frisch und überzeugend

Nun hat Vera Nemirova aber auch ein Händchen für Musik, Aktion und Bühne. Noch die kleinste Geste ist aus den Noten motiviert und überzeugt nachhaltig. Nirgendwo ist diese wunderbare Liebesgeschichte, die uns eigentlich immer wieder das zeitlose Märchen von der Leichtigkeit des Seins in der Liebe contra die Schwere des realen Leben aufzeigt, gegen den Strich gebürstet. Im Gegenteil, die Nemirova findet Bilder, die nahtlos überzeugen. Geradezu rührend trefflich besetzt ist mit dem jungen lockenköpfigen Darsteller Tansel Akzeybek die Partie des Nemorino. Ein jungblütiger herzensguter Teenager fast noch, der als Hilfskraft auf einer Schönheitsfarm irgendwo im sonnigen Italien direkt am wunderbaren Sandstrand arbeitet, und in seine etwas reifere Chefin Adina (Sigrun Palmadottir) so verliebt ist wie ein Pennäler in die hübsche neue Lehrerin, die allerdings anderes im Sinn hat. Beide singen, daß dem Kritiker das Herz aufgeht. Und dieses Traumpaar kommt natürlich erst einmal nicht zusammen, wie Tristan und Isolde, Adinas Lieblingslektüre.
 
Perfektion mit feinem Humor

Perfekt reflektieren die Nemirova und ihr Team die Gemütsstimmungen des Liebespaares und ihre Liebesqualen (immer perfekt im Zeichen der Musik) mit der wankenden Emotionalität nur mangelhaft abnehmenswilliger Kurgäste, welche beim abendlichen Wiegen die selben Qualen und Seelenschmerzen durchleiden wie das junge Paar an seiner Liebe. Und wenn Susanne Blattert als Gianetta, die Fitnesstrainerin mit der Trillerpfeife, das Gegengewicht der Waage mit spitzen Fingern langsam demonstrativ mit immer ernster werdendem Gesicht weiter schiebt, dann sterben die übergewichtigen Gäste quasi stellvertretend für unser Paar den Heldentod auf der Waage, auf den Punkt passend zu den sich verdüsternden Klängen aus dem Orchestergraben. A la bonheur! Herrlicher kann man solch ein Seelenunheil kaum inszenieren.
 
Mobiler Kiosk mit "allet"

Daß es auch ohne Alkohol, sprich Wein, geht, beweist Dulcamara (Martin Tzonev) mit seinem

Alles da - Foto © Thilo Beu
Verkaufswohnmobil, wo es für Bares alles gibt, was das Schönheitsideal zur Realität werden lassen könnte, nur keinen Alkohol! Von der Trainingssocke und dem Modeturnschuh über farbenfrohe Gymnastikbänder bis zum Lebens- und Liebeselixier, welches auch als Sonnenöl anscheinend beste Dienste leistet – alles da. Kleinere Reparaturen wie das Aufspritzen von Lippen oder die legendäre Brustvergrößerung werden natürlich im (Wohn)mobilen Operationssaal schnell und zufriedenstellend erledigt. Die „Körperwelten“ Gunther von Hagens bekommen auch noch scheibchenweise ihr Fett weg.
 
Schampus und Schnittchen

Weniger schmerzfrei ist wohl die ewige Faltenwegspritzerei, wie einige unserer perfekten Choristinnen eindrucksvoll mimen; der Hinweis, daß Botox eben doch ein Giftstoff ist, überzeugt nachhaltig! Vergessen ist die ganze Diätquälerei, Aerobic, die kalten Füße beim Kneippen und das elendige Wassersaufen allerdings sofort, wenn endlich Feiern (und Essen) angesagt sind. Aus leidenden Kurgästen werden schlagartig fröhliche natürliche Menschen.
Ja, so ist das wahre Leben – tagsüber quälen wir uns, aber abends „da simma dabei, datt iss prima“, wenn der Schampus und die Schnittchen angesagt sind, ist alles vergessen, wie nach einem Zaubertrank. An diesen erinnern die Sektkelche, die mit raffiniert integrierten Wechsellichtern geheimnisvoll den Alkohol illuminieren. Und so kommt man am Kneipp-Pool zusammen und sich näher, wenn die Liegestühle weggeräumt sind - die Kneippgemeinschaft wie das Liebespaar; wenn da nicht noch die Marine-Soldaten wären.
 

Bißchen Botox, bißchen Silikon - Foto © Thilo Beu
Köstlicher Unfug

Aber diesen köstlichen Unfug sollten Sie sich selber anschauen, verehrte Opernfreunde. Fahren Sie nach Bonn. Einen schöneren, beschwingteren und fröhlicheren Opernabend haben Sie selten erlebt. Hier kommen Szene, Bild, die wunderbaren Kostüme von Werner Hütterli und eine mehr als süffig gespielte Musik des Beethoven-Orchesters Bonn unter der hervorragenden Leitung von Christopher Sprenger brillant zusammen, wie in einem Champagner-Cocktail, in dem sich statt Luftbläschen Goldflitter bewegen. Ein ganz toller Abend. 5 Sterne für beste Bühnenunterhaltung und geglückte moderne Umsetzung dieser wunderbaren Love-Story.
 
P.S.: Daß die große Vera Nemirova mit ihrer kürzlich erst gewesenen „Macbeth-Inszenierung“ an der Wiener Staatsoper eine Weltstadt praktisch so in Panik und Verzweiflung stürzen konnte, wie weiland 1937 Orson Welles mit seinem Außerirdischen-Hörspiel „Krieg der Welten“, macht mich immer noch ratlos, denn hier hat sie bewiesen, daß sie zu Recht als eine der weltbesten und begnadetsten Opernregie-Fach-Frauen gehandelt werden muß. Tausend Dank, Vera! Freuen wir uns auf ihre Salzburger „Lulu“.

Weitere Informationen unter:
www.theater-bonn.de

Redaktion: Frank Becker