Stadtfahrt

Eine Mystifikation

von Karl Otto Mühl

Foto © Frank Becker
Stadtfahrt
 

St. fuhr durch die Stadt. Er hatte seinen Freund samt Gepäck zum Bahnhof gefahren, ihm vom Fahrersitz aus mit leichtem Druck auf den Rücken den Ausstieg erleichtert. Dies allerdings nicht ohne eine gewisse Befriedigung – schau an, er wird auch älter und schwerer, es fällt ihm nicht leichter als dir.
Aber gleichzeitig ahnte er, daß er auf einer höheren Ebene nicht deutlich erkennbarer Gefühle den göttlichen Augenblick des Tages (inmitten Millionen göttlicher Augenblicke) erlebte - ein Freund  nimmt Abschied von dir, um in ein fremdes Land zu fahren. Trennung und Vereinigung sind die erschütterndsten Ereignisse im Leben.
Aber auf dieser luftigen Ebene da oberhalb deines Kopfes hat es noch nie Trennungen gegeben, wird es auch nie. Und übrigens, wenn du so verharrst wie jetzt, in diesem Zustand, dann ist dieser Tag gewonnen, er wird luftig und heiter sein. Aber auch die Frage, ob er anders sein könnte, wird so nicht mehr möglich sein. Höchstens der Gedanke, ob jemand über so eine Frage nachdenken könnte.
 
Etwa siebenhundert Meter vom Bahnhof fuhr er an der kleinen Moschee vorbei, die rechts vor ihm aufgetaucht war, eine wirklich niedliche, freundliche Moschee innerhalb der Christenstadt; mit einem niedlichen Minarett, so, als wollten die Muselfrauen und Muselmänner freundliche Bescheidenheit demonstrieren.
Und wirklich konnte St. In diesem Augenblick nichts anderes vor sich sehen als hell strahlendes Morgenland mit weißen Mauern, duftig blauem Himmel und blitzenden Trompetenklängen. Sogar das Schwertergeklirr der Kreuzritter bei ihren Spielen in der Festung Acco konnte St. in sich aufklingen lassen.
In diesem Augenblick fiel St. ein Mann auf, der am Eingang zum Vorhof  des Minaretts stand. Sein Gesicht war dunkelgebräunt, die Lippen kräftig wulstig. Es war ein knochiges Gesicht. Der Mann war knapp mittelgroß und trug eine glänzend-braune Lederjacke.
Es tat St. in dieser Sekunde gut zu wissen, daß er anderen Menschen nicht ausgeliefert war.
 
St. war nur einen Kilometer weitergefahren, als ihm wieder ein Mann auffiel, der vor einem Gemüsegeschäft stand. Im gleichen Moment zuckte St. zusammen, Ratlosigkeit überfiel ihn. Er sah den selben Mann, der an der Moschee gestanden hatte. Unmöglich konnte dieser in den vergangenen zwei Minuten bis hierher gekommen sein.
St. fuhr rasch weiter, um diesen unfaßbaren Eindruck zu verwischen. Sein Blick haftete sich stärker an alles Sichtbare um ihn herum, die Autos, die Frauen auf dem Gehsteig, die vertrauten Häuserfronten, und so begann er langsam, dem wieder zu vertrauen, was er mit eigenen Augen sah.
 
Bis er  in der Höhe eines ehemaligen Straßenbahndepots anlangte, das jetzt einen Getränkemarkt beherbergte. Mit den Straßenbahnen war früher alles viel lustiger gewesen. Man wurde von ihnen in weit entfernte Ortschaften und Gegenden außerhalb der Stadt gefahren, gemächlich gerüttelt, fast ruhend wie im eigenen Bett, wie fahrende Lichtburgen durchfuhren sie bei Nacht die Stadt, und selten fuhren sie so schnell, daß man nicht herauf- und herabspringen konnte. Von der schützenden Erde war man nie radikal getrennt. Und nie konnten sie vom rechten Wege abweichen, denn sie fuhren in Schienen. Bussen hingegen konnte man nie trauen, wer wußte schon immer, wo sie ankommen würden, und sah die Welt auf der Rückfahrt nicht ganz anders aus als auf der Hinfahrt?
Jetzt konnte man in die bestürzend riesigen Hallen, in denen früher die Straßenbahnwaggons übernachtet hatten, hineingehen und fand nichts vor als freudlose, gestapelte Plastikkästen voller Getränkeflaschen. Auf wen würde man treffen? Wahrscheinlich auf einen lässigen, jungen Burschen, dem die Gleichgültigkeit ins Gesicht geschrieben war.
 
Aber alles dies vergaß St. sofort, als sein Blick auf den Lederjacken-Mann fiel, der am Eingang des Getränke-Depots stand und St. starr ins Gesicht zu blicken schien. Härte und Herrschsucht meinte St. darin zu lesen. Jetzt wurden für St. sogar Züge von Brutalität, ja, sogar Mordlust, deutlich sichtbar. Er wandte sich schaudernd ab, hielt den Wagen aber nach einigen Metern an. Weiterzufahren traute er sich auch nicht, denn er  fürchtete den nächsten schauerlichen Eindruck.
 
Jetzt gab es einen Riß in seinem Bewußtsein. Er befand sich plötzlich vor einer Pforte, die in eine dicke Mauer aus Quadern eingelassen war. Er wußte genau, was er sagen wollte. Er wollte sich wieder abgeben, oder wenigsten den Teil, der immer wieder dieser Gestalt begegnete.
St. hatte geläutet, aber an der Pforte erschien niemand. Nichts geschah. Die Spannung in St. nahm von Sekunde zu Sekunde zu. Er meinte, es keinen Augenblick mehr bei sich aushalten zu können. Schließlich wurden Druck und Spannung so stark, daß er glaubte, im nächsten Augenblick zu zerbersten.
 
Da geschah etwas.



© Karl Otto Mühl - Erstveröffentlichung in den Musenblättern 2010
Redaktion: Frank Becker