Zweifel am Unglauben oder Die Spur des Trostes

Eine Gedankensenke

von Andreas Steffens

Foto © Frank Becker
Gedankensenke

Eine Kolumne von Andreas Steffens
senke eine ausgehöhlte form, andern dingen darin ihre gehörige gestalt zu geben’ Jacob und Wilhelm Grimm, Deutsches Wörterbuch


Zweifel am Unglauben
oder Die Spur des Trostes

 
Der Glaube ist unglaublich, aber immer noch glaublicher als der Tod.
Dolf Sternberger, Das ewige Leben
 
In einem Alter, in dem man sich vor vierzig Jahren seinem Lebensende nahe fühlen mußte, kommt Dolf Sternberger in einer Reihe von Kurzessays auf den Gedanken zurück, mit dem er sein intellektuelles Leben begonnen hatte: die Unverständlichkeit des Todes. Nun ist es nicht mehr der der anderen, dessen ‚lieblose’ Behandlung durch den die Szene damals beherrschenden Philosophen ihn dazu bewogen hatte, seine akademische Initiation gegen Heideggers damals schon legendäres Hauptwerk >Sein und Zeit< zu betreiben, sondern der absehbare eigene.
 
Selbstverständlich weiß ich gewiß und bestimmt, daß ich sterben werde, daß ich nicht mehr sein werde. Aber es ist sonderbar: Wenn ich genau darauf achte – im geheimsten glaube ich nicht daran. Wahrscheinlich ist es uns gar nicht möglich, im Ernst daran zu glauben, daß wir sterben müssen. „Herr, lehre uns bedenken, daß wir sterben müssen!“ Wir bitten darum wie der Psalmist, aber wir können es gar nicht wirklich lernen (Sternberger, Todesfälle, 30).
 
Wie auch könnte man das Ende des eigenen Lebens begreifen, wenn schon dessen Beginn in einem unaufhellbaren Dunkel verharrt? Denn die Menschen, die ihn setzten, als Eltern zu kennen, verstärkt sein Rätsel in den meisten Fällen noch, statt es zu lösen. Zu wissen, durch wen, läßt die Urfragen warum und wie man existiert, unbeantwortet.
 
Der Trost der Weisen / Klang selten froh, fand Oskar Loerke in seinem Gedicht „Tröstungen“ (Loerke, Wald, 489). Will sagen: sie wissen keinen, weil das Wissen vom Tod nichts in Erfahrung bringen kann. Der Verzicht auf die Hybris, Anfang und Ende nicht nur bedenken, sondern auch verstehen zu wollen, macht die ‚Weisen’ zu Weisen, und ihren Trost enttäuschend.
 
Das wiegt umso schwerer, je mehr sich erweist, daß Trost nicht zu dem gehört, worauf im Leben leicht verzichtet werden könnte.
Es ist dies die Stelle, an der wiederkehrt, was vergangen scheint, und womit die Bemühung um ‚Weisheit’ im Streit lag, seit sie erdacht wurde. Philosophie und Religion, Erkenntnis und Glaube berühren sich an dieser Schnittstelle eines für ein Menschenleben unbedingt notwendigen Wissens, von dem sich immer wieder erweist, daß es durch keine noch so große Anstrengung des Denkens zu erlangen ist.
 
An der Grenze des Lebens erfährt das Denken, das es bewältigen will, seine eigene. Der Tod des anderen, an dem alles Verstehen noch mehr als am Gedanken der Unvermeidlichkeit des eigenen scheitert, versetzt in den Zustand der Untröstlichkeit. Gebraucht wird der Trost wirklich nur in der Lage, in der es keinen gibt. Der einzige Trost, der gegen die äußerste Erfahrung der Todesverfallenheit des Lebens ankäme, wäre die Entdeckung, daß sein Ende nicht endgültig sein müßte, so wie sein Beginn nicht notwendig war.
Davon scheint der Zeitgenosse so weit entfernt wie von nichts sonst.
 
Doch richtig trösten konnte mich nur mein Joggi. Stimmt, war ein Mischling, halb Spitz, halb noch was, aber deshalb schlau und echt witzig. Joggi konnte mich sogar zum Lachen bringen, wenn er den Kopf schief hielt und dabei bißchen gelächelt hat (Grass, Box, 24).
 
Der Grund, der den Hund sich als Tröster bewähren läßt, ist für den Menschen wenig trostreich: daß er nämlich kein Mensch ist, weshalb er die Situation, in der er sich auf diese Art bewährt, nicht verstehen kann. Wüßte er, was er da zu bieten hat, er würde sofort unfähig dazu. Mag es ihn auch kennen, der Tod eines Artgenossen versetzt das Tier nicht in die Lage vollständiger Hilflosigkeit, in die er den Menschen stürzen kann.
Es ist eine der demütigendsten menschlichen Erfahrungen, über dieses Vermögen genau dann am allerwenigsten zu gebieten, wenn es am dringendsten benötigt wird. Die Trostworte für Hinterbliebene, die aufzubringen die Konvention gemeinsamen Lebens einst gebot, sind fast nie mehr als ein Umreden der Hilflosigkeit angesichts des überwältigend Übermächtigen.
Jeder Trost ist vorläufig. Das richtet ihn auf Zukunft hin aus. Wovon er handelt, worauf er sich bezieht, wovon er sich herleitet, ist der Vorgriff auf eine Möglichkeit, die ihre Realisierung in einer Zukunft finden muß, deren einzige Gewähr der Glaube an sie ist.
 
 
Er hatte gelebt wie ein Renaissancefürst, geherrscht als Wahlkönig und sich ältester Herrschaftsesoterik bedient; als er an sein grausam lange aufgeschobenes Sterben kam, galt sein letztes Interesse der Frage, was danach käme – auch dafür, daß es ein ‚Danach’ gäbe, woran auch er nicht mehr glauben konnte, so wenig wie der Mensch der Neuzeit daran noch glauben kann, dessen ganzes Trachten auf Besitz und Genuß der Welt gerichtet ist, hatte Francois Mitterand, für alle Fälle, vorgesorgt.
 
Das erstaunlichste Phänomen in der säkularen Welt des Unglaubens, der selbst die christlichen Glaubengemeinschaften nicht unberührt ließ, wie die Unmutsbekundungen beider Konfessionen über die Abweichungen der ihnen von ihren Kirchenführern zugemuteten Glaubensgebote von ihren selbstverständlich gewordenen Lebensweisen zeigen, dürfte der untilgbar gebliebene Rest von Zweifel sein, ob an der mythischen Verheißung, die das Christentum zu einer Weltreligion tatsächlich machen konnte, nachdem das Legitimationsbedürfnis des Römischen Reiches es als Staatsreligion dazu bestimmt hatte, nicht doch etwas sei.
 
Als Sittengesetz ebenso wie als Weltauslegung aufgelöst, überlebt ein letzter Rest christlichen Glaubens als Zweifel an der aufklärerisch verbindlichen eigenen Überzeugung vom Trug seiner Metaphysik des Jenseits. Die materialistisch anerkannte Endgültigkeit des Todes bleibt ein zu großer Skandal, daß eine heimliche Hoffnung sich erhält, der metaphysische Trost, dessen Angebot das Christentum bestimmte, sei kein bloßer Priestertrug gewesen, keine reine Lüge zur Begründung der Herrschaft über die Seele der Menschen.
 
Diesen Zwiespalt einer nachreligiösen Moderne schon bei einer der Gründerfiguren der Neuzeit zu finden, beeindruckte den jungen Paul Valéry besonders, als er über die >Methode des Leonardo da Vinci< nachdachte.
 
Sein Urteil über den Tod mag aus einem ziemlich kurzen Text hervorgehen – einem Text jedoch von antiker Gediegenheit und Schlichtheit, der vielleicht im Vorwort zu einem nie vollendeten Traktat über den menschlichen Leib Platz finden sollte.
Dieser Mann, der, um den Verlauf einiger Adern festzustellen, zehn Leichen seziert hat, spricht den Gedanken aus: die Bildung unseres Leibes ist ein solches Wunder, daß die Seele, obgleich ‚göttlicher Natur’, sich nur mit der größten schmerzlichen Pein von diesem Leib, den sie bewohnt hat, trennt. ‚Und ich glaube wohl’, sagt Leonardo, ‚daß ihre Tränen und ihr Schmerz nicht grundlos sind...’.
Dringen wir in den sinnvollen Zweifel, der sich in diesen Worten birgt, nicht tiefer ein. Es genügt, den riesigen Schatten ins Auge zu fassen, den hier eine aufkeimende Idee vorauswirft: Der Tod, verstanden als ein Unheil für die Seele! Der Tod des Leibes, eine Beeinträchtigung dieser göttlichen Mitgift.
 
In diesem ‚riesigen Schatten’, den Valéry Leonardos Zweifel an der Letztverbindlichkeit des materiellen Leibes und seiner Funktionen werfen sieht, wirkt ein rhetorisches Echo jenes Schattens der Verdunkelung nach, die über die Welt im Moment des Kreuzestodes Christi fiel. Die Überwindung der Welt, für deren Gesetz der Leib des Menschen als Sitz der Seele steht, mußte sich am Leib des Mensch gewordenen Gottes vollziehen, um erwirkt zu werden: der Leib muß sterben, damit die Seele als Teilhabe am Göttlichen zu jener Nachweltlichkeit befreit werde, die die Verheißung des Christentums ist. Damit ihr Ereignis aber zur Begründung der Glaubensgewissheit auch geglaubt werden kann, muß sie sich nach dem Gesetz der Welt im Leib bewahrheiten: als Rückkehr des toten Leines ins Leben, als Wiederbeseelung.
 
Dieses Zeugnis bietet das Matthäusevangelium (28, 51-54). Aber Jesus schrie abermals laut und verschied. Und siehe da, der Vorhang im Tempel zerriß in zwei Stücke von obenan bis untenaus. Und die Erde erbebte, und die Felsen zerrissen, und die Gräber taten sich auf, und standen auf viele Leiber der Heiligen, die da schliefen, und gingen aus den Gräbern nach seiner Auferstehung und kamen in die heilige Stadt und erschienen vielen.
 
Der leibliche Tod des Gottessohnes ist der Moment, in dem der Tod als Bestimmung des Weltlebens überwunden ist, und die Toten aus ihren Gräbern treten.
Dieser Moment ist von der mythischen Überlieferung als der das Christentum überhaupt erst begründende, alles entscheidende Moment vernachlässigt worden. Sie fixierte sich ganz auf das Ereignis der eigenen Auferstehung Jesu am dritten Tag nach seinem Kreuzestod - : nicht sein eigenes leeres Grab aber ist das weltumstürzende Ereignis, sondern daß Tote im Moment seines eigenen Todes ihre Gräber verließen. Allein darin liegt der über alle allzumenschlichen Zweifel erhebende ‚Beweis’ seines Heilswerkes der Erlösung vom Tod.
 
Als Versprechen der Überwindung des Todes ist der christliche Auferstehungsmythos der größte metaphysische Trost, der jemals von Menschen ersonnen wurde. Sein ultimativer Ausgriff in eine Zukunft vollendet jeden möglichen Trost, da der Kern jeder Trostbedürftigkeit die Hilflosigkeit des Menschen angesichts seines Todes ist.
Dieser mythische Kern des Osterfestes begründet, womit das Christentum noch den durchmodernisierten Menschen zu einem Zweifel am Unglauben verlocken kann: einen möglichen Trost, dessen Bedürfnis die absolute Unverständlichkeit des Todes unentwegt erneuert.
Deshalb ist der Trost in eben dem Maß die Herausforderung der modernen Nachdenklichkeit geblieben, in dem der Tod sich als unverständlich behauptet. Er ist die Bastion, an der die Wissenschaftsgläubigkeit der Neuzeit mit jedem einzelnen, der geschieht, immer wieder scheitert.
 
Der Tod ist das alles bestimmende Lebensphänomen, das sich der Einsicht am hartnäckigsten entzieht. Obwohl wir Wesen der Einsicht sind und sein müssen, bleibt das Wesentliche dem Verständnis verschlossen. Nicht das schlimme Ereignis, seine Unverständlichkeit macht trostbedürftig. Die Trostbedürftigkeit ist der Zustand, in dem unsere Seinsungewißheit, unsere tatsächliche Ohnmacht sich an der Grenze des Menschseins unbezweifelbar manifestieren, ohne ihre Erfahrung in ein beruhigendes Wissen überführen zu können.
 
Jeder Trost sucht nach einem Grund dafür, dass wir keinen Grund haben dazusein (Blumenberg, Beschreibung, 635). Vergeblich. Denn weil wir nicht notwendig sind, werden wir trostbedürftig, wann immer wir daran erinnert werden. Es muß uns nicht geben, geworden sind wir unvermeidlicherweise nur als unvorhersehbares Produkt der Bewegungen der Weltelemente; deshalb vergehen wir als Teil der unentwegten Bewegung des Weltprozesses.
Auch dieser Gedanke einer metaphysischen Spekulation zum Zweck anthropologischer Tröstung muß eine Version des Unverständnisses bleiben, ohne dessen Behebung werden zu können.
 
Am Ende mag der größte mögliche Trost des ‚Weisen’ darin liegen, die Untröstlichkeit als Kennzeichen des Wesens anzuerkennen, das immer nur wissen und bestimmen kann, wie es lebt, aber nie, warum. Nicht einmal ein als Wunschkind ins Leben Gekommener könnte den Grund seines Daseins enträtseln.
 
Als Gefallenem der Schöpfung wie als Stiefkind der Evolution tut es dem Menschen am wohlsten, sich als eine begrenzte Möglichkeit des Daseins von unermeßlichem Rang zu verstehen.
 
Denn das ist die andere Seite der Unverständlichkeit des endlichen Daseins wie der Unerweisbarkeit seiner Mythen: worüber sich nichts wissen läßt, davon kann alles gedacht und geglaubt werden.
 
 
Literatur
Blumenberg, Hans, Beschreibung des Menschen, aus dem Nachlaß hg. von Manfred Sommer, Ffm 2006, IX: Trostbedürfnis und Untröstlichkeit des Menschen
Grass, Günter, Die Box. Dunkelkammergeschichten, Göttingen 2008
Loerke, Oskar, Tröstungen, in: Der Wald der Welt (1936), in: ders., Die Gedichte, Ffm 1984
Sternberger, Dolf, Der verstandene Tod. Eine Untersuchung zu Martin Heideggers Existential-Ontologie (1932/34), in: ders., Über den Tod, Ffm 1977; 1981, 69-264
Sternberger, Dolf, Das ewige Leben (1977), in: ders., Über den Tod, Ffm 1977; 1981, 33-34
Sternberger, Dolf, Todesfälle (1977), in: ders., Über den Tod, Ffm 1977; 1981, 30
Valéry, Paul, Leonardo. Drei Essays, Ffm 1959