Zeichnerischer Notfall

Eine merkwürdige Erzählung

von Eugen Egner

Zeichnerischer Notfall

Seit Anfang November arbeite ich in einem Provinzstädtchen als freiberuflicher Zeichenlehrer. Mein erster Schüler wurde mir nachts um drei von seinem Vater gebracht. Es handelte sich sozusagen um einen Notfall, der Bub mußte unbedingt und sofort im Zeichnen unterwiesen werden. Nachdem der Vater ihn bei mir abgeliefert hatte, verabschiedete er sich schnell, um bis zum Wecken noch ein paar Stündchen Schlaf zu bekommen. Ich mußte also allein zusehen, wie ich die Aufgabe bewältigte. Es galt, im Handumdrehen einen Lehrplan aufzustellen. Dabei kam mir zu Hilfe, daß ich früher einmal für einen älteren Herrn, einen Dr. Salfeld, eine Trickfilmserie zeichnerisch hatte rekonstruieren müssen, die er angeblich in einem geheimen Fernsehprogramm gesehen hatte. Dessen entsann ich mich und wiederholte nun meinem Schüler, so gut ich nach all der Zeit konnte, die Beschreibungen, die mir mein damaliger Auftraggeber von seinen zweifelhaften Eindrücken gegeben hatte. Der Notfall-Bub versuchte brav, meine Worte zu illustrieren. Es war unglaublich: Ich ließ meinen Schüler doch wahrhaftig Dr. Salfelds Serie noch einmal rekonstruieren! Mit Spannung erwartete ich, was dabei herauskommen würde. Die Version des Schülers würde sich natürlich, schon allein hinsichtlich der Technik, gewaltig von der unterscheiden, die ich selbst damals angefertigt hatte. Neugierig beobachtete ich den lautlosen Kampf meines Schülers. Er mühte sich redlich ab, seine von meinen Worten erzeugten Vorstellungen aufs Papier zu zwingen. Zunächst wollte es nichts werden, er radierte viel und begann immer wieder neu, bis endlich die erste Figur entstand. Ich staunte, wie ungemein vertraut sie mir vorkam. Bis auf winzige Details wies sie, von der persönlichen “Handschrift” abgesehen, eine enorme Ähnlichkeit mit der auf, die ich seinerzeit selbst gezeichnet hatte. War die Beschreibung so zwingend? Ließ sie objektiv nur diese eine Visualisierung zu? Vielleicht war es nur ein, wenn auch unwahrscheinlicher, Zufall. Ich mußte abwarten, wie der Junge den nächsten Charakter darstellen würde. Nach ein paar Fehlstarts bekam er ihn in den Griff. Es war wieder das Gleiche; man konnte glauben, er kopiere meine Version, wenn das auch praktisch ausgeschlossen war. Der Vorgang war unheimlich und wurde immer unheimlicher, weil weiterhin alles, was sich das Kind abrang, im Großen und Ganzen dem entsprach, was ich für Dr. Salfeld gezeichnet hatte. Eine solche Übereinstimmung konnte der beschreibende Text nicht automatisch bei jedem beliebigen Zeichner bewirken. Selbstverständlich war ein viel größerer Interpretations- Spielraum zu erwarten.
   “Hast du diese Figuren vorher schon einmal gesehen?” fragte ich meinen Schüler. Er sah mich entgeistert an und antwortete: “Nein, die habe ich doch gerade erst gemacht.”
   “Und weshalb gerade so?” forschte ich weiter. “Könnten sie nicht auch anders aussehen?”
   Anscheinend glaubte er, sich gegen einen Vorwurf verteidigen zu müssen: “Ich hab alles genau so gemacht, wie Sie gesagt haben.”

   Das konnte ich nicht ernst nehmen. Unbegreiflich, was für ein Spiel man sich da mit mir erlaubte! Ohne mich auf Diskussionen einzulassen, schmiss ich den Kerl hinaus.


Textillustration © Eugen Egner

Beispielbild
Eugen Egner - Foto © Frank Becker


Eugen Egner, * 10.10.1951 in Ingelfingen

Dichter phantastischer Prosa (Auswahl: "Androiden auf Milchbasis", "Gift Gottes", "Die Eisenberg-Konstante", "Aus der Welt der Menschen", "Der Universums-Stulp")
Erfinder glaubhafter Biographien ("Die Tagebücher des W.A. Mozart", "Aus dem Tagebuch eines Trinkers")
Hörspiel-Autor (u.a. "Das Schattenfräulein", "Was macht eigentlich Harry Absolut?")
Zeichner (u.a. "Meisterwerke der grauen Periode", "Als die Erlkönige sich Freiheiten herausnahmen", "Gefährliche Gitarristen")
selbst gefährlicher Stromgitarrist