Die Lüge wird zur Weltordnung

Franz Kafkas "Der Prozess" in einer brillanten Bühnenfassung

von Frank Becker

Sophie Basse, Andreas Möckel, Juliane
Pempelfort - Foto © Joachim Dette
Die Lüge wird zur Weltordnung
 
Herbert Neubeckers Bühnenbearbeitung
von Franz Kafkas Roman „Der Prozess“
in einer fesselnden Inszenierung
von Sybille Fabian
 
„Das Verfahren geht ganz allmählich ins Urteil über“
 


Inszenierung
: Sybille Fabian – Bühne: Herbert Neubecker – Kostüme: Michael Sieberock-Serafimowitsch/Sybille Fabian – Dramaturgie: Sven Kleine - Fotos: Joachim Dette
Besetzung: Gregor Henze (Josef K.) – Sophie Basse (Frau Grubach, Onkel Karl) – Juliane Pempelfort (Frl. Bürstner, Das bucklige Mädchen, Leni) – Anne-Catherine Studer (Wächter Franz, Frau des Gerichtsdieners, Das Mädchen) – Thomas Braus (Wächter Willem, Gerichtsdiener, Der Geistliche) – Andreas Möckel (Aufseher, Direktor-Stellvertreter, Untersuchungsrichter) – Daniel Breitfelder (Kaminer, Student Bertold, Maler Titoreli) – Lutz Wessel (Neffe Lanz, Hauptmann, Auskunftgeber, Prügler) – Andreas Ramstein (Rabensteiner, Advokat Huld, Grauhaariger Angeklagter) - Statisterie
 
Eine ominöse Macht faßt zu
 
Der Bankbeamte Josef K. (Gregor Henze), 30 Jahre alt, ledig, Untermieter bei Frau Grubach (Sophie Basse), wird aus dem Schlaf heraus ohne Anschuldigung, ohne Legitimation, doch auch ohne

Thomas Braus, Gregor Henze - Foto © Joachim Dette
physische Gewalt von zwei erschreckend martialischen „Wächtern“ (Anne-Catherine Studer, Thomas Braus) verhaftet. Sein selbstbewußter Protest verpufft vor der Autorität des noch martialischeren, zugleich süffisanten Aufsehers (Andreas Möckel), der deutlich macht, trotz seiner Befugnisse untergeordnet zu sein. Wie enorm muß also die „Macht“ darüber sein? Dieses Monströse des Apparats, der hier wirkt, wird unentwegt unterstrichen, ob durch den Vize-Direktor (Andreas Möckel), der K. unter Druck setzt, weil er selber der Kontrolle unterliegt, durch den Maler Titorelli (Daniel Breitfelder), der sich anscheinend arrangiert hat oder wen auch immer. Alle sind subaltern. Josef K. muß sich, ohne inhaftiert zu werden, einer ominösen Gewalt unterwerfen, einem rätselhaften Gerichtsverfahren stellen, das nichts anderes als seine Schuld festzustellen hat. Denn daß er eine Schuld trägt, die Schuld, scheint völlig außer Frage zu stehen.
 
Gültige Bühnenbearbeitung von Kafkas Roman
 
Franz Kafkas genialischer, die Schlünde aller Abgründe der Angst vor willkürlicher staatlicher Autorität aufreißender Roman hat schon vor, besonders aber seit der prominent besetzten Verfilmung durch Orson Welles aus dem Jahr 1962 diverse Film-, Opern- und Bühnenbearbeitungen erlebt, schreit jedoch immer noch nach einer über die Zeit gültigen Fassung für die Bühne, denn die Eindringlichkeit des beängstigenden Sujets ist geradezu wie für das Theater gemacht. Oder verlangt jede neue Zeit nach einer neuen Interpretation? Herbert Neubecker hat mit seiner Bearbeitung einen Weg in das Unheimliche der von Ängsten, Pressionen und heimlichen Mächten beherrschten Welt des Josef K. gefunden, der in Auslegung, Personifizierung und direktem Bezug auf die Romanvorlage gültig und zeitlos erscheint, zugleich jeden Zuschauer mit dem eigenen Zwiespalt zwischen Aufbegehren und Unterwerfung, Lust und Schuld, Glauben und Atheismus konfrontiert.


Foto © Joachim Dette
 
Eine (fast) schwarz-weiße Welt
 
Gestern hatte Sybille Fabians Inszenierung für die Wuppertaler Bühnen in Zusammenarbeit mit dem Teo Otto Theater in Remscheid dort ihre wenn auch nicht ausverkaufte, jedoch sehr gut besuchte und mit allem Recht gefeierte Premiere. Man kann von einem grandiosen Gesamterfolg sprechen, denn sowohl Neubeckers Fassung als auch die von ihm gestaltete schwarz-weiße schräge Bühne, Fabians überwiegend schwarz-weiße Kostüme, die dramatischen Klang-Einspielungen, die Choreographie

Gregor Henze, Juliane Pempelfort - Foto © Joachim Dette
und jede Einzelleistung der außer Gregor Henze mehrfach besetzten Mitwirkenden muß als Perle bezeichnet werden. Farbe kommt durch die brillanten Akteure ins Spiel und blitzt gezielt nur gelegentlich in Form eines (zerquetschten) Apfels und der kommentierten Ausgabe von Schönfelders „Deutsche Gesetze“ auf. Wo alles gepanzert, verborgen, verschlossen ist, überraschen als Andeutung des harmlos Schönen und Begehrenswerten in dieser häßlichen Welt die kaum verhüllten göttlichen Brüste von Josef K.s Zimmernachbarin Frl. Bürstner (Juliane Pempelfort), der er über seine Verhaftung berichtet. Dialog: „Wie war es denn?“ – „Schrecklich!“ – „Das ist zu allgemein.“
 
Expressionismus und Silly Walking
 
Zug um Zug läßt sich K. bei abnehmendem Aufbegehren in den Sog des mysteriösen Verfahrens ziehen, das immer deutlicher sein Leben bedroht. Der Alptraum der Wehrlosigkeit lähmt ihn, lähmt selbst den Zuschauer, der immer wieder von der Bühne aus als Teilnehmer an dem grausigen Tribunal, dann wieder als Mitangeklagter identifiziert wird. Unbehaglich. Neubecker und Fabian haben den literarischen Expressionismus und bekannte expressionistische Filmbilder aus z.B. „Metropolis“ und  „Das Cabinet des Dr. Caligari“ hervorragend umgesetzt, dabei aber auch nicht mit listigen Anleihen bei Monty Python gespart. Maschinengeräusche und Choreographien erinnern an Fritz Lang, Zeitlupen des Schreitens an „The Ministry of Silly Walking“. Das Tribunal unter dem brüllenden Untersuchungsrichter (Andreas Möckel) drückt auch den Zuschauer tiefer in den Sitz. Man ahnt: hier gibt es kaum ein Entkommen. Ein Geniestreich.
 
Erbarmungslos
 
Josef K. erlebt entsetzt die Erbarmungslosigkeit des geheimnisvollen Systems an der gnadelosen Exekution seiner Wächter, an der Gewalt gegen die Frau des Gerichtsdieners (Anne-Catherine Studer). Sein Fragen nach dem Ende der Qual wird ihm vom Auskunftgeber (Lutz Wessel) zynisch beantwortet: „Nur was nicht aufhört weh zu tun, bleibt im Gedächtnis“. Nicht einmal der Geistliche

Gregor Henze - Foto © Joachim Dette
(Thomas Braus), der durch den Glockenschlag der Kathedrale auf den Plan gerufen wird, ist bereit, ihm eine hoffnungsvolle Perspektive zu eröffnen, macht ihm im Gegenteil vor dem Hintergrund einer riesigen Thora-Rolle mit der Türhüter-Parabel das Unvermeidliche klar. Josef K. ringt bis zum letzten dramatischen Moment, auch mit der verzweifelten Suche nach der eigenen Identität („Wer bin ich denn? Wissen Sie, wer ich bin?“). Das Schlußbild zeigt als Symbol der alles verschlingenden Macht eine riesige Tresortür.
 
 „Die Lüge wird zur Weltordnung gemacht“. Schmerzhafte Lehre - aber allzu wahr. Kafkas deprimierende Einsicht ist bis auf den Tag gültig. Eine hervorragende, unbedingt sehenswerte Inszenierung. Am 16. April feiert das Stück in Wuppertal seine zweite Premiere. Nicht versäumen!
 
Weitere Informationen unter: www.wuppertaler-buehnen.de