Das kopflose Huhn

von Friederike Zelesko

Das kopflose Huhn
 
 
Wer sein Huhn allein ißt, muß auch sein Pferd allein satteln.
Französisches Sprichwort
 
 
 
            Es gibt zwei Arten von Hennen, die viele Eier legen, sagt mein Vater und nimmt sich beim Wort. Er kauft drei Rhodeländer und eine Leghorn. Reinrassig, einkämmig. Wir stehen im Hof und schauen auf das Federknäuel, das mit Gegacker aus dem Sack stiebt. Die Federn fliegen. Schneeflocken im Sommer. Es ist das erste Mal, daß mich der Federgeruch in der Nase kitzelt. Meine Mutter schaut so, wie sie schon die Ziege und das Ferkel angeschaut hat. Meine Mutter bekommt den Hühnerblick. Der Geruch des Hühnersacks stülpt sich über mich. Ich fülle ihn später mit Futter, verstelle meine Stimme, wenn ich die Hühner rufe, das Futter streue. Ich rede die Hühnersprache.
            Die weiße Leghorn und die braunen Rhodeländer legen viele Eier. Sie sind glücklich. Ihre Augen haben gelbe Ringe. Ihre Hälse drehen sich blitzschnell und ruckartig in jede Richtung. Sie legen den Kopf schief, äugen auf den Boden, fangen zu picken an, zu scharren.
Eine Henne bleibt eine Henne, sagt mein Vater, sucht ein Brett für die zweite Hühnerleiter und bringt einen Hahn, rot, mit schillernden Schwanzfedern und allmorgendlichem Hahnenschrei. Sein Kamm schwillt an..
            Ich rupfe kein Huhn, sagt meine Mutter lange Zeit. Sie legt ihre Arme angewinkelt an ihren Körper und schlägt sie wie zwei Flügel. Meine Mutter, die Glucke, hat auf jeder Seite zwei Küken. Sie hackt die hart gekochten Eier klein und füttert die Küken mit Mutternahrung. Sie gedeihen gut, der gelbe Federflaum bekommt bald einen harten Kiel.
            Mein Vater ißt jeden Abend Eierspeis. Das Fett zischt, wenn er die Eier in die Pfanne schlägt, mit der Gabel den Dotter zerreißt. Der Dotter ist sehr gelb und gesund. Wir bleiben alle gesund, wenn wir mit den Hühnern schlafen gehen und mit den Hühnern aufstehen, sagt mein Vater und schickt uns um acht Uhr ins Bett.
            Wenn wir einmal krank sind, und wenig essen, kocht meine Mutter das Ei weich. Kernweich. Sie schält es vorsichtig aus seiner Schale in ein Glas, salzt es und rührt um. Das kernweiche Ei ist eine Medizin. Auch die Hühnersuppe ist eine Medizin.
            Bald rupft meine Mutter das erste Huhn. Ein dummes Suppenhuhn. In ihren Augen verschwindet der Hühnerblick. Das Gesicht meiner Mutter ist sehr weiß, so wie das Gefieder, das auf dem Hackstock liegt, sich noch einmal aufrichtet und kopflos die letzten Schritte läuft.
 
 
© Friederike Zelesko - Erstveröffentlichung in den Musenblättern 2010