Wenn der Riese lacht….

Kurt Masur und das „Orchestre National de France“

von Peter Bilsing
Wenn der Riese lacht….Vive la France!
 
Romeo & Julia
als konzertanter Themenabend
des „Orchestre National de France“
unter Kurt Masur
 
Philharmonie Essen – 20. April 2010
 

Man reibt sich die Augen, Kurt Masur, einer der letzten der Giganten, der Mann von dem die Amerikaner immer noch glauben, er habe die Mauer siegfriedgleich mit eigenen Händen eingerissen und weit und breit kein Beethoven im Programm. Was ist los? Dafür endlich einmal eine richtig schöne und harmonisch passend vielfältige Programmgestaltung, welche unter dem Titel „Romeo & Julia“ stand; drei Konzertknaller und Bravourstücke ersten Grades: Zuerst die Tschaikowsky-Ouvertüre, dann Bersteins Sinfonische Tänze, die konzertante Version von West-Side-Story Highlights (natürlich mit Schnipps- und Mambo-Einlage der Musiker) und im zweiten, hochanspruchsvollen Teil dann Prokofjews „Romeo und Julia“, die Ballettsuiten. Alles par excellence gespielt – soviel sei vorweg verraten.
 
Das französische Nationalorchester (warum gibt es bei uns so etwas eigentlich nicht?) existiert seit 1934. Es ist auch unter den Namen „Orchestre National de la Radiodiffusion Française“ oder als „Orchestre National de l´ORTF“ bekannt. Es wurde von Désesiré-Emile Ingelbrecht gegründet und konnte schon ehrenvolle Dirigenten, wie Cluytens, Münch, Martinon, Maazel oder Celibidache begrüßen, um nur einige zu nennen. Seit 2008 ist Daniele Gatti, Nachfolger von Kurt Masur, Musikdirektor. Ein Orchester also mit großer Tradition und ein Klangkörper, der sich auch mit nicht wenigen Uraufführungen zeitgenössischer Werke einen Namen gemacht hat; ich möchte hier pars pro toto neben der „Turangalila Sinfonie“ von Olivier Messiaen noch große Werke der französischen Zeitgenossen Dutilleux und Varese nennen. Schade, daß man auf Reisen gerade solche nationalen Stücke leider nicht hört. So reizend, locker und bezirzend wie die junge Konzertmeisterin kommen die meisten Musiker und Musikerinnen daher - ein Orchester, welches auf den ersten Blick (im Gegensatz zu den von mir letztens besprochenen Wiener Philharmonikern) ausgesprochen sympathisch wirkt. Natürlich sind die vielen Musikerinnen kein Konzertalibi, sondern gehören zum festen Musiker-Stamm.
 
Auch hier erklärt sich der Kritiker unfähig zu kritisieren, denn das Orchester spielte geradezu traumwandlerisch sicher und schön. Da kann der Maestro, der ja mit den bloßen Händen dirigiert, sogar manchmal gänzlich auf die Rhythmus-Gebung und den Einsatzpointierung verzichten, den man versteht sich geradezu blind. Immerhin nimmt Masur bei Bernstein dann doch die Partitur zu Hilfe, was nicht nur ihn, sondern auch den Komponisten, meiner bescheidenen Meinung nach, ehrt.
 
Nach den donnernden und elegische Phrasen der Prokofjew-Ballett-Musik – kaum ein anderes Werk hat solche Dynamiksprünge – schließt der Abend ohne Zugabe, die ist wohl erst für den nächsten Tag (zweites Konzert mit Dvorak und Smetana) vorgesehen. Dennoch Riesenbeifall und respektvolles Klopfen der Musiker für einen Dirigenten, den anscheinend alle lieben und dem diesmal öfter als gewohnt ein fröhliches Lächeln das ernste Gesicht und die Alterssorgenfalten aufhellte. Ein großer Abend in der Essener Philharmonie, der auch weniger betuchten Konzertgängern für weniger als 20,- Euro Karten anbot. So sollte es sein. Weiterhin „Viel Glück“ und „Vive la France“ für dieses tolle Orchester und beste Genesung für Maestro Masur, der, wie verlautet, beim tagdrauf folgenden Konzert vom Podest stürzte, was gottseidank aber wohl glimpflich ausging.

Redaktion: Frank Becker