Frau mit Gipsbein

von Karl Otto Mühl
Karl Otto Mühl
Frau mit Gipsbein

Ich schreibe heute am Küchentisch. Hier ist von der Westseite her guter Lichteinfall, und es bleibt länger hell. Das spart Licht und damit Strom, worauf ich weitaus mehr achte als andere.
 
Damit wäre ich schon bei einer meiner Eigenschaften, denn die sind es, die ich gerade hier formulieren muß, weil ich diese Kontaktanzeige zu verfassen suche, die mein Kollege Fabian Brösel ins Internet stellen wird, wie er sagt. Ich werde mich vor der Fülle von Zuschriften kaum mehr retten können, sagt er. Nur, ich muß die Eigenschaften, die ich habe, deutlich darstellen. Das geht nicht so leicht, weil ich gegen meine Bescheidenheit verstoßen muß. Ich dränge mich nie in den Vordergrund.
 
Ich überlegte vorhin, ob ich mich bei der Anzeige zunächst auf die Angabe meiner wichtigsten Eigenschaften beschränken sollte, nämlich: Sparsamkeit, Sauberkeit und Ordnungsliebe. Alle drei scheinen mir gleich wichtig zu sein, und trotzdem wird es darauf ankommen, was jede einzelne von den Leserinnen am meisten schätzt. Ich muß es darauf ankommen lassen. Schließlich bin ich bisher immer gut damit gefahren. Obwohl ich schon Sechsundfünfzig bin, habe ich damit Aussichten, denke ich, eine verständnisvolle Partnerin zu finden, die sie zu schätzen weiß, die Eigenschaften und natürlich, so hoffe ich doch, deren Inhaber, also mich.
 
Selbst für die Erfüllung eines Kinderwunsches wäre es noch nicht zu spät. Ein Kind würde genügen, vorausgesetzt, es würde so verständig, daß es meine Ratschläge und Lebensregeln annehmen und beherzigen könnte.
In der Sparkasse, in der ich beschäftigt bin, weiß man, so denke ich manchmal, meine Eigenschaften zu schätzen. Noch kürzlich sagte Frau Tilly, die in der Revision arbeitet, zu mir: „Sie sind aber ordentlich!“ Dabei hatte ich nur einige Krümel von ihrem Schreibtisch entfernt.
 
Aber niemand hat mich so geschätzt wie meine Mutter, glaube ich. Zuletzt, als sie schon sehr schwach war, sagte sie einmal zu mir: „Du meinst es gut, Rolfi. Ich weiß das. Laß die anderen über dich reden, was sie wollen. Du weißt ja, die reden manchmal so daher.“
Das nenne ich Mutterliebe. An ihrem Todestag bringe ich noch heute Blumen zu ihrem Grab, genau um die Stunde, in der sie gestorben ist. Es war um sechzehn Uhr dreiundzwanzig.
 
Es ist ein gutes Gefühl, in meinem Alter immer noch die freie Auswahl unter möglichen Ehepartnerinnen zu haben, also, sozusagen den Rücken freizuhaben. Das wäre nicht so, wenn einige Dinge anders gelaufen wären. Ich meine die Beziehung zu Nora.
Ich muß sagen, daß mit ihr am Anfang alles sonnenklar zu sein schien, also auch eine etwaige lebenslange Verbindung. Sie schien mir von allen Frauen, die ich kannte, am verträglichsten und verständigsten zu sein; und kleine Fehler oder auch Fehlverhalten von ihr konnte ich immer korrigieren und fand bei ihr auch Bereitschaft dafür. Die Schwierigkeit für unsere Beziehung kam völlig unerwartet von einer ganz anderen Seite.
 
Wir waren am Sonntagnachmittag in der Gaststätte „Margaretenhof“ im Siebengebirge gewesen, hatten Kaffee getrunken und bezahlten nun. Ich hatte schon befürchtet, sie würde erwarten, daß ich ihren Verzehr bezahle. Das soll es ja geben. Aber bei ihr war das nicht so, sie zog rechtzeitig ihre Börse aus der Handtasche. Wir machten uns auf den Weg zum Bus.
 
Und nun geschah es. Wir hatten erst ein paar Schritte gelegt, da stolperte sie über einen Stein, stürzte unglücklich, stöhnte mit schmerzverzerrtem Gesicht: „Ich glaube, da ist etwas gebrochen.“
Ich konnte sie überzeugen, daß sie zwar in eine Klinik müsse, daß aber der Transport dahin, wenn nicht mit dem Bus, so doch mit einem Taxi erfolgen könne, und nicht etwa mit einem unerschwinglichen Krankenwagen. Wir fuhren also mit dem herbeigerufenen Taxi zur Unfallklinik.Während ich ihre Hand hielt – nur, um sie zu beruhigen -, erklärte ich ihr, daß ich für die Taxikosten selbstverständlich in Vorleistung treten würde.
Der Rest geschah nun ohne mein Zutun. Sie mußte einige Tage in der Klinik bleiben. Dann holte ich sie ab und sah, daß sie bis über das Knie hinaus mit einer Gipsmanschette versehen war. Ich muß sagen, der Anblick war ein Schock für mich. Ich begleitete sie bis zu ihrer Wohnungstür, an der sie bereits von ihrer Mutter erwartet wurde.
 
Mir war unterwegs längst klar geworden, daß ich mich nicht mit einer behinderten Frau belasten konnte. Zu groß waren die Risiken, nicht absehbar die Folgekosten, und das alle für mich wegen eines Menschen, der mir bis vor Kurzem völlig gleichgültig gewesen war, ja, den ich nicht einmal kannte.
Natürlich sagte ich ihr dies alles nicht mit solcher Deutlichkeit. Ich schrieb ihr nur, daß sich mein Kindheits-Asthma wieder gemeldet habe und ich eine Zeit lang völlig zurückgezogen leben wolle, vielleicht auch sparsam leben müsse, um eventuelle außergewöhnliche Behandlungskosten auffangen zu können.
 
Manchmal habe ich in den vergangenen Jahren an sie zurückgedacht. Ich hoffe nicht, daß sie unter meinem Verlust gelitten hat. Dazu kannte sie mich vielleicht nicht genug.
Übrigens hatte die Beziehung noch ein Schlußkapitel. Vor zwei Monaten rief sie mich an, ja, sie lebe noch. Ja, sie sei verheiratet, mit einem Brasilianer, aber der habe sich seit zwei Jahren nicht gemeldet. Sie habe auch nie gewußt, was der Mann dachte.
Er sei undurchsichtig, ganz anders eben als ich.
Wir haben uns getroffen. Das Wiedersehen war herzlich und offenherzig. Wir gingen in ein Café und suchten uns ein Tischchen in der Ecke aus. Es gab da eine Sitzbank und zwei einzelne Stühle. Ich halte das hier genau fest, denn solche Einzelheiten vergißt man später schnell.
 
Nora setzte sich, blickte zu mir auf, klopfte mit der Hand auf den Platz neben sich und sagte: „Hier, setzen Sie sich. Ja! Direkt hier!“
Es wäre dort eher eng gewesen. Und sie wollte, dass ich mich neben sie setze, Hüfte an Hüfte.
 
Das habe ich nicht gemacht.


© Karl Otto Mühl – Erstveröffentlichung in den Musenblättern 2010