Der vergessene Geburtstag

aus: "Es kommt immer was dazwischen"

von Hanns Dieter Hüsch

© André Poloczek - Archiv Musenblätter
Es kommt immer was dazwischen

N
eulich habe ich wieder mal einen Geburtstag ver­gessen. Ganz schlimm war das für mich. Aber es kam einfach zu viel dazwischen. Dabei hatte ich mir vorge­nommen, mir alles genau zu merken. „Du mußt we­nigstens ein paar Blümchen hinschicken“, sagte ich mir, „wenigstens ein paar Blümchen mit Fleurop.“ Und dann habe ich das noch auf einen Zettel geschrie­ben und an meiner Merkwand aufgepinnt. Haben Sie auch so eine Merkwand? Unsere hat mir meine Toch­ter zum Geburtstag geschenkt, mit kleinen Figuren aus dem Tierreich. Die sitzen magnetisch auf der Merk­wand. Man kann dann den Zettel mit der wichtigen Notiz dazwischen tun, und dann wird man daran erin­nert, damit man es nicht vergißt. Aber das ist keine Garantie. Auch wenn man sich noch so konzentriert, man vergißt es, denn es kommt ja immer was dazwi­schen. Das kennen Sie doch auch. Ich meine, wir lei­den doch alle darunter, und meistens sagt man dann: „Das ist der Streß.“ Nein, das ist noch viel schlimmer. Sehn Sie mal: Streß, den kann man sich einteilen, den kann man sich über den Tag verteilen, über die Woche sogar. Aber wehe, wenn Sie schon alles verteilt haben, so daß es im Leben sehr eng wird, und es kommt dann noch was dazwischen. Entweder ist es einem nicht mehr eingefallen, oder es ist etwas ganz Neues, wo jemand vor Ihnen auf den Knien liegt und fleht: „Kannst du mir das nicht eben noch zwischendurch machen?“ Und wenn man dann nicht nein sagen kann - und ich kann das nicht -, dann wird der ganze Streß über den Haufen geworfen, und der schöne Plan ist im Eimer. Man war bereit, Tag und Nacht zu arbeiten, aber jetzt soll man auch noch beim Essen, das man sowieso nur im Stehen zu sich nimmt, kreativ sein, weil jeder sagt: „Du kannst das schon, du machst das schon, es gibt ja auch noch den Sonntag, das ist doch für dich eine Kleinigkeit, das machst du doch mit links.“ Ja, und wenn dann noch was dazwischenkommt, höhere Ge­walt, Beerdigungen, Schicksale, Vorworte, Nachrufe, Verspätungen, Mißverständnisse, Telefonate, dann fängt man an, das erste, was man sich so schön einge­teilt hatte, langsam zu vergessen. Dann sagt der Kopf: „Vielen Dank, mein Lieber, ich mag nicht mehr, steck dir doch deine Geburtstagsblumen Gott weiß wohin, ich lege mich ins Bett!“ Sagt der Kopf, während der Hintern noch zögert. Aber schließlich siegt die Hori­zontale. Man flieht am hellichten Tag in Tausendund­eine Nacht. Und schon sind die Geburtstagsgrüße und Wünsche, die man doch so gerne übermittelt hätte, und die Telegramme und die Telefonate und Faxe ganz weit weg. Aber das Leben geht dennoch weiter. Und das Schöne ist ja, es geht uns fast allen so. Und die Aus­nahmen sind dann die Maschinen. Aber die sind zu er­setzen. Ich weiß nicht, ob Ihnen das inzwischen auch so geht. Manchmal geht das anderen nicht so. Ich bin in letzter Zeit auch immer so was von müde, also ich sage Ihnen, ich weiß nicht, was da los ist. Ob ich fünf Stunden schlafe oder elf Stunden, ich komme jedesmal wie gelähmt hoch. Das soll die sogenannte Frühjahrs­müdigkeit sein. Sagt man meistens. Aber vom Frühjahr
war ja bis jetzt wirklich nicht viel zu sehen. Die Jah­reszeiten sind alle krank. Da können Sie mir sagen, was Sie wollen. Die Jahreszeiten sind krank und wissen nicht, zu wem sie gehen sollen. Zu einem Kräuterheil­kundigen oder zu einem Schulmediziner.



© Chris Rasche-Hüsch
Veröffentlichung aus "Es kommt immer was dazwischen" in den Musenblättern mit freundlicher Genehmigung