Nude Visions - 150 Jahre Körperbilder in Fotografie und Malerei

Noch bis 15. August im Von der Heydt Museum Wuppertal

von Rainer K. Wick
Nude Visions

150 Jahre Körperbilder in Fotografie und Malerei
Eine Ausstellung im Von der Heydt Museum
Wuppertal
 
Nur noch bis 15. August zu sehen


Begehrtes Objekt künstlerischen Schaffens
 
Der nackte menschliche Körper ist – aus welchen Motiven und mit welchen Zielsetzungen auch immer – seit jeher ein bevorzugter Gegenstand künstlerischen Schaffens, von den frühen
 
Norbert Przybilla, Franz - © Münchner Stadtmuseum
Fruchtbarkeitsidolen der Steinzeit über die Götterbilder der Griechen und Römer und die Meisterwerke der Renaissance, des Barock und des Klassizismus bis hin zur Klassischen Moderne und zur unmittelbaren Gegenwart. Was über Jahrhunderte als Plastik, Malerei, Zeichnung oder Druckgrafik Gestalt gewann und hinsichtlich stilistischer Merkmale, kultur- und zeitspezifischer Besonderheiten und subjektiver Haltungen der Künstler erheblich variieren konnte (man denke nur an die pralle Sinnesfülle in den Bildern des flämischen Barockgenies Rubens einerseits und an die unterkühlte Erotik in den Gemälden des französischen Klassizisten Ingres andererseits), wurde mit der Erfindung eines neuen, technischen Mediums in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, nämlich der Fotografie, in die Bahnen einer vermeintlich „objektiven“ Darstellung gelenkt. Daß die Fotografie tatsächlich aber weit davon entfernt war und ist, Mensch und Welt in „unnachahmlicher Treue“ wiederzugeben, sondern die unterschiedlichsten Sehweisen und Interpretationspraktiken möglich macht, belegt einmal mehr die Ausstellung „Nude Visions“, die am 30. Mai 2010 im Wuppertaler Von der Heydt-Museum eröffnet wurde und dies am Beispiel von 150 Jahren Aktfotografie durchbuchstabiert.
 
Akademisches und Frivoles
 
Schon kurz nach ihrer Erfindung (es kursieren in der Fotogeschichte zwei „Geburtsurkunden“, die auf

Lehnert/Landrock, Aktstudie 3113
© Münchner Stadtmuseum
die Jahre 1827 und 1839 datiert sind) bemächtigte sich die Fotografie des Aktes als eines klassischen, gleichsam historisch nobilitierten und akademisch kodifizierten Themas, und so ist es kein Zufall, daß am Anfang der Geschichte der Aktfotografie (und der Wuppertaler Ausstellung) sogenannte Akademien stehen, fotografische Bildtafeln unbekleideter weiblicher und männlicher Modelle, die den Künstlern im 19. Jahrhundert als Studienvorlagen dienten und sich an den Leitbildern der klassischen Hochkunst orientierten. Während diese Fotografien prinzipiell im Studio entstanden und Erotisches eher zu vermeiden suchten, waren die frühen Freilichtakte, die zeitlich parallel zur Entfaltung der Pleinair-Malerei der Impressionisten unter der Sonne des Mittelmeers aufgenommen wurden (erwähnt seien nur die Fotografen Vincenzo Galdi, Wilhelm von Gloeden und Guglielmo Plüschow) durchaus an der Darbietung der sinnlichen Qualitäten ihrer Modelle interessiert. Manche Fotografien der damaligen Zeit betonten bewußt das Frivole, wurden gar als pornografisch eingestuft und konnten nur unter dem Ladentisch gehandelt werden.
 
Fotografie vs. Malerei
 
Von Anfang an hatte sich die Fotografie einen – letztlich aussichtslosen – Konkurrenzkampf mit der Malerei geliefert. Dies bezeugen in der Wuppertaler Ausstellung jene Aktfotografien, die dem um 1900 populären sog. Piktorialismus zuzuordnen sind, Fotos also, die durch manuelle Nachbehandlungen oder mit Hilfe des Bromöl- und Gummidruckverfahrens Wirkungen anstrebten, die der Ästhetik des Impressionismus oder auch des Jugendstils verpflichtet waren, um der Fotografie und mithin der Aktfotografie auf diese Weise die Weihen der „hohen Kunst“ zu verleihen.


Rudolf Lehnert & Ernst Landrock, Aktstudien u. Edgar Degas Étude de nue - Foto © Von der Heydt Museum

Im Unterschied dazu beschwören die Aktfotografien, die im Kontext der lebensreformerisch motivierten Freikörperkulturbewegung des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts entstanden, die angeblich ursprüngliche, kreatürliche Einheit von Mensch und Natur. Fern aller Erotik, aber nicht ohne Pathos, das uns heute zuweilen geradezu komisch anmutet, feiern sie den nackten Menschen, der sich nur in ein „Lichtkleid“ gehüllt in der Sonne badet oder sportlich betätigt.
 
Künstlerische und gesellschaftliche Umbrüche
 
Erst in den 20er und 30er Jahren des letzten Jahrhunderts kam die Fotografie mit Strömungen wie dem Neuen Sehen und der Neuen Sachlichkeit (und der „straight photography“ in den USA)

Ruth Bernhard, Shadow Image
© Münchner Stadtmuseum - Foto: Frank Becker
gleichsam zu sich selbst. Insbesondere die Fotografen des „Neuen Sehens“ suchten sich von der Malerei zu emanzipieren und die spezifischen medialen Möglichkeiten der Fotografie auszuloten. Dieses zeittypische Interesse fand auch in der Aktfotografie in ungewöhnlichen Bildausschnitten, Positiv-Negativ-Umkehrungen, Solarisationen und Fotomontagen ihren Niederschlag – Tendenzen, die dann nach dem Zweiten Weltkrieg von Vertretern der Subjektiven Fotografie um Otto Steinert aufgegriffen und weiterentwickelt wurden. Erotik spielte hier eine untergeordnete Rolle, das (formale) Fotoexperiment stand ganz im Vordergrund.
Zu den gesellschaftlichen Umbrüchen der späten 60er und frühen70er Jahre gehörte auch die sogenannte Sexuelle Revolution, und die Aktfotografie erlebte in jenen Jahren einen ungeahnten Boom. Zur Ikone dieses Aufbruchs wurde Uschi Obermaier, die in Wuppertal mit einem Foto von Guido Mangold präsent ist (übrigens kein Aktfoto im eigentlichen Sinne, trägt das Modell doch eine nasse Bluse, die seine körperlichen Reize allerdings durchaus betonen). Fotografische Bilder „nackter Tatsachen“ eroberten rasch die Printmedien, und das zuweilen als inszenierter Tabubruch daherkommende Aktfoto war Bestandteil und Baustein eines Programms, das auf Emanzipation aus tradierten politischen, sozialen und kulturellen Zwängen zielte. Seither wurden (nicht zuletzt durch das Internet) die Schwellen dessen, was als moralisch akzeptabel gilt, stetig tiefer gelegt, manches Aktfoto streift nicht nur die Grenze des Obszönen, sondern thematisiert – in kritischer Absicht – explizit Pornographisches (Timm Ulrichs, Thomas Ruff).
 
Das Wuppertaler Konzept
 
Die trotz der etwas unübersichtlichen Raumfolge gelungen gehängte Wuppertaler Ausstellung

Anonym, Weiblicher Akt beim Fernsehen
© Münchner Stadtmuseum
dokumentiert all diese Facetten mit repräsentativen Bildbeispielen bedeutender Fotografen, deren Namen sich wie ein Who is Who der Fotogeschichte lesen. In ihrer Kernsubstanz und ihrem Aufbau ist sie eine Übernahme der Fotoschau „Nude Visions“ des Münchner Stadtmuseums, die im letzten Jahr in der bayerischen Landeshauptstadt gezeigt wurde. Allerdings mit einem entscheidenden Unterschied: Die ca. 200 Fotografien werden in Wuppertal durch Aktgemälde und -skulpturen aus den Sammlungsbeständen des Von der Heydt-Museums ergänzt, etwa von Hans von Marées, Edgar Degas, Paul Cézanne, Auguste Rodin, Aristide Maillol, Pablo Picasso, Otto Mueller, Christian Schad und anderen. So entsteht ein spannungsreicher Dialog zwischen Malerei und Plastik auf der einen und Fotografie auf der anderen Seite, der es erlaubt, Gemeinsamkeiten und Unterschiede, Nähe und Ferne zwischen den Gattungen unmittelbar zu erfahren.
 
Sehenswert
 
Das informative, 416 Seiten umfangreiche, zweisprachige Katalogbuch (deutsch – englisch) mit zahlreichen Abbildungen sowie Beiträgen des Leiters der Fotosammlung des Münchner Stadtmuseums Ulrich Pohlmann und anderer Textautoren ist durchaus empfehlenswert, auch wenn es die Breite und Tiefe des 1985 erschienenen Standardwerks „Das Aktfoto“, herausgegeben von Michael Köhler und Gisela Barche, nicht erreicht.
„Ohne Zweifel vermag nichts den Blick so auf sich zu lenken, wie der nackte menschliche Körper“. Diese Feststellung aus dem Jahr 1909 hat auch 100 Jahre danach nichts von ihrer Aktualität verloren.

Stefan Moses, Tilo Keil in der Ausstellung seiner Hautbilder
 © Münchner Stadtmuseum
, Foto: Frank Becker
Nachdem die sehenswerte Ausstellung „intimacy! Baden in der Kunst“ im Kunstmuseum Ahlen erst kürzlich zu Ende gegangen ist, liefert das Von der Heydt-Museum mit „Nude Visions“ dafür erneut einen schlagenden Beweis.
 
Nude Visions
150 Jahre Körperbilder in Fotografie und Malerei
Von der Heydt-Museum, Wuppertal
1. Juni – 15. August 2010
Das Katalogbuch zur Ausstellung, herausgegeben von Ulrich Pohlmann und Rudolf Scheutle, ist im Kehrer-Verlag, Heidelberg, erschienen und kostet 25,­–  €.


Redaktion: Frank Becker