Morgen

voller Leere

von Karl Otto Mühl

Foto © Frank Becker
Morgen
 
voller Leere
 

Ich habe ein stilles Haus verlassen – Frau beruflich unterwegs, Oma, Neunundneunzig, mit Tochter seit heute an der Nordsee. An der Haustüre verabschiedete sich Oma und sagte: „Jetzt, wo alle weg sind, wirst du wohl alles im Griff behalten können.“
 
Als ich mich der Bäckerei nähere, steigen gerade die Rohrleger in den Werkstattbus. Einen von ihnen, den nebenberuflichen Kampfsportlehrer, kann ich noch begrüßen. „Es geht so“, sagt er auf meine Frage, „außer, daß ich nicht schlafen konnte.“
Wieso?
Nun, das Kleinkind, oder wie nennt man das, das habe ich die ganze Nacht geschrieen, die Frau sei darüber eingeschlafen. Und das Kind, es wollte und wollte sich nicht hinlegen und schlafen. Immer wieder habe er es mit geschicktem Griff auf den Rücken gleiten lassen, und immer wieder sei es sekundenschnell aufgestanden, habe sich an Brüstung des Kinderbetts geklammert und gekräht.
Ich könne mir das gut vorstellen, sagte ich, schließlich sei auch ich einmal junger Vater gewesen. Und wie habe er das Problem gelöst?
Er habe sich neben dem Bettchen flach auf den Teppich gelegt und sei schließlich eingeschlafen. Aber da ging es schon auf den Morgen zu.
 
Das sei wirklich schlimm für ihn gewesen, sage ich mit heimlicher Schadenfreude. Gerade für ihn müsse es demütigend sein, wo er doch, wie er einmal gesagt habe, Kampfsport gelernt habe, damit ihn niemals jemand auf den Rücken legen könne. Und nun habe  er doch flach dagelegen – .
So sei es keineswegs, fiel er mir ins Wort. Seine Schüler kämen vielleicht manchmal mit diesem Bestreben zu ihm, aber er belehre sie schnell darüber, daß es immer und für jeden einen Besseren und Stärkeren gebe. Nein, ich sei es, der falsche Vorstellungen habe. Kampfsportler seien fast ausnahmslos sanfte und liebe Menschen. Sie wollten sich einfach nur verteidigen können.
 
Still ist es heute auch in dieser Wohnsiedlung am Waldrand, noch stiller in der Bäckerei, wo die Bäckerin, auf den bewährten Dreieckstisch gestützt, in der Zeitung liest. Ich komme eben heute etwas später als sonst, da ist der Haupt-Ansturm vorüber. Wir einigen uns kurz darauf, nicht über Politik und nicht über die Gräßlichkeiten in der Zeitung zu reden. Die Bäckerin stimmt mit Überzeugung zu, wie sie überhaupt die Begabung hat, ihren Kunden das Gefühl zu geben, daß sie immer die richtige Meinung vertreten.
Die Stille und die Leere habe ich respektieren gelernt. Die Augenblicke der Rat- und Ziellosigkeit, des Alleinseins, des Verzichts auf das Telefon, sie gehören zu denen, an die ich mich am deutlichsten erinnere. Es sind die Augenblicke, die mich immer noch anlächeln, weil ich noch keinen Namen für sie gefunden habe. Und häufig hatten sie in ihrem Gefolge wichtige oder aufregende Ereignisse.
 
Den Ansturm, der jetzt plötzlich stattfindet, würde ich nicht zu den wichtigen Ereignissen rechnen. Er findet ja öfter statt. Ich rede von dem Ansturm der Pollen von Bäumen und Pflanzen, die mich inzwischen aufgespürt haben. Vielleicht haben sie nicht mit dem Gegenangriff der Aggressorzellen gerechnet, die nunmehr rücksichtslos vorstürmen; wie ich las, in der Überzeugung, mir zu helfen. Das tun sie aber nicht. Statt dessen läuft die Nase, die Augen tränen, im Hals spüre ich Schleim.
Aber sie haben nicht mit einer dritten Macht gerechnet, mit Frau Dr. Anke Kwaracxelia, die mir dies beigebracht hat: Machtvolle, berauschende Klänge ertönen in meiner Vorstellung, es sind die aus „Freude, schöner Götterfunken“, eine euphorisierte friedliche Menge zieht über sanfte Wiesen herauf, seidene Fahnen schwenkend, blau und grün und violett. Das Herz wird weich, nicht nur meines, auch die Herzen der gepanzerten, reisigen T-Zellen schmelzen, ihre Streiter sinken schlafend zu Boden. Und, Einbildung in oder her, der Heuschnupfen läßt nach. Dankbarkeit steigt in mir hoch.
 
Der nur scheinbar leere Morgen hält noch ein weiteres Geschenk bereit. Der selten auftauchende Wilfried kommt herein. Nach kurzer Aufwärmphase kommt auch hier ein offenes Gespräch zustande – ja, so ohne Probleme sei er nicht – ja, er hat es getan! Er hat seine Frau belogen. Er macht ein trauriges Gesicht.
„Ein reifer Mensch muß auch lügen können“, sage ich tröstend.
Die eigene Frau? Das glaube er aber nicht.
„Was war denn?“ frage ich.
Nun, er hat ihr erzählt, daß er eine Unfall mit dem Auto hatte.
Und? Hat er etwa nicht?
Doch.
Und?
Nun, er hat gesagt, er sei schuld gewesen. Aber der andere war schuld.
Aber dann müsse der doch für den Schaden aufkommen.
Nein.
Wieso?
Es sei ein junger LKW-Fahrer gewesen. Und der habe gesagt, er sei erst zwei Monate in der neuen Firma, jetzt habe er Angst. „Verstehen Sie? Ein armer Teufel.“
„Ja, aber -“, sage ich unsicher.
Seine Frau achte eben mehr aufs Geld. Darum habe er nicht gesagt, daß er bezahle, obwohl der andere schuld sei.
„Das hat man selten, so Leute wie Sie“, sage ich nachdenklich.
 
Es gibt noch Märchen. Und das Märchenhafteste ist, daß diese Geschichte wahr ist.




© Karl Otto Mühl - Erstveröffentlichung in den Musenblättern 2010