Aufklärung auf Umwegen.
Der Roman „Cant läßt grüßen“
von Alois Brandstetter „Wenn nun eine solche Umwandlung der Denkungsart Ihrem geliebten Freunde offenbar geworden – wie denn Aufrichtigkeit ihre unverkennbare Sprache hat –, so wird nur Zeit dazu erfordert, um die Spuren jenes rechtmäßigen, selbst auf Tugendbegriffe gegründeten Unwillens desselben nach und nach auszulöschen und den Kaltsinn in eine noch fester gegründete Neigung zu verändern.“ Worte wie diese, man mag es ahnen, stammen von Immanuel Kant, und sie rufen nach einer leserfreundlicheren Aufbereitung. Umso mehr, wenn man weiß, daß der Philosoph glaubte, mit derlei Auslassungen einem liebeskranken Mädchen aus ihrer Herzenspein zu helfen. Soweit alles klar.
Der österreichische Schriftsteller Alois Brandstetter hat drei authentische Briefe vom Beginn der 1790er Jahre zur Grundlage einer literarischen Spielerei gemacht, die Kants gewichtige Worte erläutert und dabei einen Streifzug durch das Werk des Aufklärers vornimmt. Die Fabrikantentochter Maria von Herbert hatte sich schriftlich an diesen – obwohl bekannter „Hagestolz“ – gewandt und in grenzenloser Ergebenheit um Hilfe gebeten, nachdem ihr Geliebter es an Zuneigung vermissen ließ. Kant entwarf tatsächlich einen Antwortbrief (aus ihm stammt das Eingangszitat), den er allerdings nicht abschickte; schließlich folgte noch ein zweites Schreiben der jungen Dame.
Hier bringt nun Brandstetter, vielfach geehrter Prosaist, einen „Amanuensis“ ins Spiel: einen fiktiven Bediensteten Kants, dem dieser die Aufgabe überträgt, den Bittbrief zu beantworten. Das Ergebnis ist der Band „Cant läßt grüßen“, den der Autor seinem verstorbenen Freund Rudolf Malter widmet, einst Präsident der Deutschen Kant-Gesellschaft. Er wird im Vorwort als „Einbriefroman“ bezeichnet. Passend ist dieser Ausdruck mit Blick auf die Länge des sogenannten Briefes: Über immerhin 230 Seiten verbreitet sich der eifrige Diener über die Urteile und Ratschläge seines Herrn in der Sache des Fräuleins – und über alles, was ihm sonst noch einfällt. Diese Weitschweifigkeit wiederum führt zu einem anderen Merkmal des Buches, das an der Angemessenheit der Kategorie „Roman“ ernstlich zweifeln läßt: „Cant läßt grüßen“ hat keine Handlung. Was der fiktive Erzähler mit einigem Humor vorlegt, ist die einmalige Gelegenheit eines sonst im Schatten stehenden Zuträgers, sich und seine Ansichten in aller Ausführlichkeit zu äußern – im Sinne seines Meisters, freilich, in der Gestaltung aber von Laune und Zufall diktiert und ohne erkennbare Struktur.
Ein Beispiel aus den Anfangsseiten: Ausgehend von der Tatsache, daß die Bittstellerin den Philosophen mit Gott verglichen hatte, doziert der Diener über zehn Seiten hinweg zum Thema „fehl geleitete Devotion“ und zeigt sich als Kenner des kantschen Oeuvres: „In seiner ,Anthropologie‘ […] rechnet er die Enthusiasten ja nicht bloß zu den ,Unsinnigen‘, sondern zu den ,Wahnsinnigen‘.“ Eine Verehrerin, erzählt er weiter, habe ihr Ersuchen um eine Locke des großen Mannes, eingedenk seiner Kahlköpfigkeit, ergänzt durch ein schlüpfriges „gleich welcher Provenienz“. Und das hier nicht ferne Thema „Reliquienverehrung“ ist natürlich ein willkommener Anlaß, einen Exkurs zu Kants Verhältnis zum Katholizismus im Allgemeinen und zum Fasten im Speziellen anzuschließen, inklusive eines mahnenden „O selbstverschuldete Unmündigkeit!“.
So geht es weiter: Im Stil eines Rundumschlags verhandelt der mitteilungsfreudige Diener Kants Abneigung gegen Goethe („Er müsse thief Luft holen, wenn er sich mit Göthe in einem Athemzug genannt finde!“), den „Hofmeister“ von Lenz und andere Vertreter des Sturm und Drang („die ziemlich genau vom Jahre 1768 her datieren und darum auch oft ,die Achtundsechziger‘ genannt werden“), des Denkers Haltung zum Bergsteigen („Nichts ist ihm so zuwider wie Schweiß und Thränen.“). Ab und zu schreibt er sogar auch zum Thema: Die Reue, welche das Fräulein für eigenes Fehlverhalten erkennen ließ, müsse ihr Partner anerkennen, vorausgesetzt sie sei „echt und recht“. Und von der Institution Ehe rate Kant gerade deshalb ab, weil er eine viel zu hohe Meinung von ihr habe.
Insgesamt legt sein Amanuensis aber eine wilde Aneinanderreihung von Assoziationen vor, die weniger vielfältig erscheint als orientierungslos. Das arme Mädchen müßte durch das eigenwillige Hilfsangebot erst vollends in Verwirrung gestürzt worden sein, und der Leser kann es ihr nachfühlen.
Gekleidet ist all dies durchgängig in eine Sprache und Orthographie, die an Kants Zeit angelehnt ist. Brandstetter ist offenbar ein Freund fingierter Anachronismen, wenn neudeutsche Formulierungen („sich abseilen“, „angedacht“) etwa kommentiert werden mit einem „wie die Stürmer und Dränger sagen“. Hinzu kommen zahlreiche Wortspiele, von denen manche belustigen, andere eher enervieren („Auf das schöne Geschlecht habe er sich nie eingelassen. In Frauen sei er nie eingedrungen.“). Zuweilen wirkt auch der Humor so unmotiviert wie die erwähnten Themensprünge.
Doch abgeraten werden soll hier nicht von der Lektüre von „Cant läßt grüßen“, das ein wenig wie ein Spaziergang anmutet: Es bietet zwar keine klare Linie, aber dafür eine heitere Reise durchs Werk von Immanuel Kant – ohne Ziel, aber voller überraschender Richtungswechsel und kleiner Sehenswürdigkeiten.
Alois Brandstetter: Cant läßt grüßen.
© 2009 Residenz Verlag, 235 Seiten (ISBN 978-3-7017-1526-8),
|