Überwindung der Gleichgültigkeit - Eine Erinnerung an Kultur

Vortrag zur Einleitung der Diskussion: „Der Mensch lebt nicht vom Brot allein“

von Andreas Steffens
Andreas Steffens
 
Überwindung der Gleichgültigkeit
Eine Erinnerung an Kultur
 
Vortrag zur Einleitung der Diskussion: „Der Mensch lebt nicht vom Brot allein“. Kultur und Gesellschaft im Dialog, Auftakt-Veranstaltung zum Meisterkurs Klavier 2010, Lindlar, 08.07.2010
 
 
I
 
Gibt es noch eine Stunde der Kunst in einer Zeit, in der die gesellschaftliche Unruhe, das Unbehagen an der anonymen Massenhaftigkeit unseres gesellschaftlichen Lebens, von allen Seiten empfunden wird und die Forderung des Wiederfindens oder des Neubegründens echter Solidaritäten immer wieder erheben läßt? Ist es nicht ein Ausweichen, wenn man Kunst oder Dichtung noch weiterhin für ein integrales Moment des Menschseins hält?
Diese Fragen bezeichnen den Kern dessen, was sich derzeit in unserer Gesellschaft, politisch erzwungen als Folge einer durch Missbrauch künstlich herbeigeführten Krise der Ökonomie, an Auseinandersetzung um Notwendigkeit oder Entbehrlichkeit von Kultur entwickelt.
Sie sind genau vierzig Jahre alt: Hans-Georg Gadamer stellte sie 1970 in seinem Essay >Verstummen die Dichter?< (Gadamer, Verstummen, 104). Sie sind damals nicht verstummt, und auch heute ist ein Verschwinden von Kultur nicht zu befürchten. Auch, wenn der Eifer, mit dem ihre öffentliche Abschaffung derzeit betrieben wird, historisch beispiellos ist. Von den Interessen der Gesellschaft her gedacht – was immer heißt: von den in ihr stärksten Interessen, die sich zu artikulieren wissen und in den Institutionen wirken – ist die Kultur ein altes Ärgernis.
Gadamers rhetorische Fragen sind von zeitloser ‚Aktualität’, wie es den Überlegungen eines Philosophen zukommen mag. – Meine eigenen werde ich im Folgenden an dem ausrichten, worauf Gadamers Bezeichnung der Kunst als „integrales Moment des Menschseins“ verweist.
 
 
II
 
Zu den –bedenklicheren - Erfolgen der gegenwärtigen ‚Krisen’-Dramaturgie gehört es, die öffentliche Auseinandersetzung auch um die Kulturauf den einzigen Wert eingeschränkt zu haben, der gar keiner ist: Geld. Das macht die Debatte über sie selbst kulturlos. Denn worum geht es, wenn über Schließung oder Erhalt von Museen, Bibliotheken, Theater- und Opernhäusern gestritten wird? Um entbehrliche Kosten, oder um notwendige Leistungen, die eine Gesellschaft ihren Angehörigen schuldet, die keine andere haben, in der sie ihr einziges und einmaliges Leben führen könnten?
Nichts von dem aber, was ein Menschenleben lebenswert macht, läßt sich in Geldeswert bemessen – oder wie berechnet sich Intelligenz und Phantasie eines Kindes; erfahrene und erwiesene Liebe; Ehrlichkeit und Zuverlässigkeit in Handel und Gewerbe; Vertrauen und Rücksicht in Partnerschaft; gegenseitige Rücksicht, Höflichkeit und Achtung im täglichen Umgang miteinander? Was ist die Einsicht eines Leitartikels wert, die Gedankenschärfe einer wissenschaftlichen Abhandlung, die ein Phänomen verstehen läßt, der Einfall, der zu einer Erfindung führt, die ein Medikament hervorbringt, das eine Krankheit heilt? Was die erhellende Sprachkraft eines Romans, in dem Leser ihre Lebenskrise dargestellt und ein Muster zu ihrer Lösung finden? Was die treffende Metapher eines Gedichts, das ein Gefühl verstehen läßt? Was kostet der Glücksfall, in einer Bibliothek das Buch zu finden, das fehlte, um einen Gedanken zu Ende zu bringen, ohne den es eine Theorie nicht gäbe, die ein Problem lösbar werden läßt?
Die Werte der Kultur sind so unberechenbar wie ihre Erzeugnisse unvorhersehbar; beziffern lassen sich allein die Kosten, die aufgewendet werden müssen, damit es gibt, womit und woraus sie entstehen können.
Die Schatten des Regimes der Betriebswirtschaft, das eine Pseudoökonomie der Bereicherung und Vermögensumschichtung in einer inzwischen ganze Volkswirtschaften erfassenden Dimension hat entstehen lassen, die einzigartig ist in der bekannten Weltgeschichte, machen blind für die Unbezahlbarkeit der Werte, die in den Leistungen der Kultur geborgen liegen.
Auf seltsame Art findet sich die Beweis- und Rechtfertigungslast heute verkehrt: statt dass ihre Gegner erklären, warum sie abgeschafft gehöre – denn der Hinweis auf das Geld, das fehle, ist von einem diskussionswürdigen Argument soweit entfernt wie der Mond von der Erde - , verlangen sie von ‚der Kultur’, ihre Daseinsberechtigung zu begründen. Als verlangte der Staatsanwalt von einem Angeklagten, seine Beschuldigung zu widerlegen, statt sie seinerseits zu belegen.
Dabei hat kein Künstler etwas zu der ökonomischen Misere beigetragen, die als Begründung dafür dient, ihm nun seine öffentlichen Wirkungsmöglichkeiten in der Gesellschaft zu beschneiden oder ganz zu nehmen; kein Museumsleiter, kein Theaterintendant hat sein Budget dazu verwendet, an den Börsen mit inexistenten Werten zu spekulieren; kein Honorar eines einzigen Solisten hat mit verschuldet, dass ein Volksvermögen in unvorstellbarer Billionenhöhe zur Deckung spekulativer Machenschaften verausgabt werden muß.
Wie dagegen argumentieren?
Am besten: gar nicht. Gegen Anmaßung und Demagogie helfen Argumente so wenig wie gegen Meinungen und Vorurteile.
Es geht nicht darum, ob wir uns Kultur leisten können. Es geht ausschließlich darum, ob wir sie uns leisten wollen – weil wir einsehen, dass wir sie uns leisten müssen, und gegebenenfalls das Geld aufzubringen haben, das dazu erforderlich ist.
Einer Gesellschaft Kultur zu entziehen, hieße, ihre Angehörigen einer Verarmung der Welt zu unterwerfen, deren Folgen langfristig an die Möglichkeit des Lebens rühren müssten.
 
 
III
 
„Der Mensch lebt nicht vom Brot allein.“ Das gilt verstärkt, seit er an seinem Brot auch sterben kann. In ihren Anstrengungen, Leben zu erhalten, hat die Zivilisation parallel zur Abschaffung alter, neue Lebensgefahren hervorgebracht. Ihre elementare Leistung, die Natur zu befrieden und deren allgegenwärtige Todesdrohung zu bannen, hat den Menschen selbst zu einem der Urheber seiner Tode gemacht.
Das zu bemerken, ist Kultur: das tätige Bewusstsein der Bedingtheit des Daseins. Wir leben, als wäre es selbstverständlich; dabei ist es die zufällige Verwirklichung einer Unwahrscheinlichkeit, gattungsgeschichtlich ebenso wie individuell. Naturgeschichtlich als ein ‚Unfall’ der Evolution ins Sein gekommen, trachtet die Menschheit danach, ihr Dasein zu stabilisieren. Dass wir unser Leben dennoch als Selbstverständlichkeit tatsächlich führen können, obwohl es keine ist, verdankt sich allen Kulturleistungen, die jemals hervorgebracht wurden. In vollkommener individueller Hilflosigkeit, das uns jedem Tier unterlegen macht, auf die vorbereiteten Einrichtungen der Existenzführung angewiesen, sind wir in der Möglichkeit unseres individuellen Lebens Erben aller Menschen, die ihr Leben vor uns führten.
Das bekannteste Matthäus-Wort, mit dem der Veranstalter uns auf das heute zu führende Gespräch einstimmte, steht in einem Kontext, der ins Zentrum der Problematik weist, die uns beschäftigen soll. Auf die Feststellung, dass der Mensch nicht vom Brot allein lebe, folgt die Begründung:  sondern von einem jeglichen Wort, das durch den Mund Gottes geht.
Feststellung und Begründung aber sind ein Zitat - : Den in die Wüste gelockten Jesus läßt Matthäus die Herausforderung des Teufels, er solle, wenn er Gottes Sohn sei, aus Steinen Brot werden lassen, mit der Erinnerung an die Erinnerung Gottes an die Mühseligkeiten des vierzigjährigen Wüstenzuges seines Volkes parieren: Es steht geschrieben: „Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, sondern von einem jeglichen Wort, das durch den Mund Gottes geht“ (Matt. 4,4). Nämlich im 5. Buch Mose, 8.3: Er demütigte dich und ließ dich hungern und speiste dich mit Man, das du und deine Väter nie gekannt hattet; auf dass er dir kundtäte, dass der Mensch nicht lebt vom Brot allein, sondern von allem, was aus dem Mund des Herrn geht.
Das Sein des Menschen ist auf das Wort Gottes gegründet so, wie dessen erste Äußerung die Schöpfung war. Aus dem Wort entstanden wie alle übrigen, erhält das letzte Geschöpf sich durch das Wort. Das ihm offenbarte, dem es als Gesetz Folge leistet, und das eigene, mit dem es sich den Sinn des Gesetzes auslegt, das die Offenbarung ihm auferlegte. Gottes Wort ist die Quelle des Seins und der Ordnung des Daseins. Das Wort ist Gesetz; das Gesetz ist durch die Worte, die es aus- und nachsprechen.
Mit der Auslegung des Gesetzeswortlauts beginnt Kultur. Von ihrem Erbe wird sie bis in ihre letzten Phasen der säkularen Welt die Verpflichtung zurückbehalten, durch Verständnis der Daseinsbedingungen die Daseinsmöglichkeit des Menschen zu gewährleisten. Denn nichts ist so ungewiß wie die Selbstverständlichkeit des Lebens für den, der es hat.
Was immer sie sonst auch sein mag, ist die Kultur der säkularen Welt der unausgesetzte Versuch, das Dasein auf das menschliche Wort zu gründen. Was immer das an Emanzipationen bewirkt haben mag, an der tatsächlichen Macht, die auch die Sprache des Menschen wirken kann, erweist das Wort sich als Ursprung und Garant von Seinsmöglichkeit.
Auf eindringlichste Weise wird das bezeugt von einem – gerade noch – zeitgenössischen Zeugnis des Erschreckens vor der Macht des Wortes, die niemand so unverstellt erfährt wie der Wortkünstler, der in der Sprache lebt, dessen Leben sie begründet. 1962 veröffentlicht Hilde Domin ihr Gedicht „Unaufhaltsam“ (in: Rückkehr, 19 f.).
 
Das eigene Wort,
wer holt es zurück,
das lebendige
eben noch ungesprochene
Wort?
 
Wo das Wort vorbeifliegt
verdorren die Gräser,
werden die Blätter gelb,
fällt Schnee.
Ein Vogel käme dir wieder.
Nicht dein Wort,
das eben noch ungesagte,
in deinen Mund.
Du schickst andere Worte
Hinterdrein,
Worte mit bunten, weichen Federn.
Das Wort ist schneller,
das schwarze Wort.
Es kommt immer an,
es hört nicht auf, an-
zukommen.
 
Lieber ein Messer als ein Wort.
Ein Messer kann stumpf sein.
Ein Messer trifft oft
am Herzen vorbei.
Nicht das Wort.
 
Am Ende ist das Wort,
immer
am Ende
das Wort.
 
Das Wort kann beenden - was im äußersten Fall heißt: töten - , weil es das Erste von Allem war: ‚das’ Wort beendete das Nichtsein, und rief die Welt ins Sein; so ausschließlich, dass noch jedes Menschen-Wort ins Nichtsein zurück stoßen kann.
Ein Wort des Bürokraten, der die Asylanerkennung verweigert; ein Wort der/s unerwidert Geliebten; das Wort des Ideologen, der befindet, was, und wer, nicht sein sollte; das Wort des Machthabers, der den Befehl erteilt, zu töten, wer immer das Wort des Ideologen nicht erfüllt. Das Wort des Sachbearbeiters, der den Kredit nicht bewilligt, der das Fortbestehen des Kleinbetriebes gesichert hätte.
Von uns selbst wissen wir wenig, von anderen fast nichts; fast gar nichts von der Wirklichkeit. Wir kennen sie zwar als ‚unsere’ und teilen sie mit anderen; aber wir wissen nicht, was sie ist. Das macht die Kunst der Auslegung als Vergewisserung gemeinsamer Wirklichkeit zu einer zwar begrenzten, dennoch praktisch unendlichen Anstrengung.
Zu kennen, aber nicht zu wissen; zu wissen, aber nicht zu kennen – in dieser doppelten Differenz öffnet sich das Feld der Kultur. Sie füllt die Lücken zwischen Sein und Dasein, Wirklichkeit und Wirklichem, ‚Mir’ und ‚den Anderen’, Kenntnis und Verständnis. Ihre Leistungen der Darstellung, der Deutung und der Benennung von Sinn und Zusammenhang ermöglichen Lebensführung auch diesseits der Grenzen und Brüche, der Ungewissheiten und Ungenauigkeiten, die nicht immer, und nicht von jedem aus eigener Deutungs- und Gestaltungskraft überwunden werden können.
Nicht jede Erfahrung kann man selbst machen; in den Künsten aber sind alle verarbeitet, die für ein Menschenleben bedeutsam sein können. Ihre Werke bilden einen Fundus von Erfahrungen, die jeder nutzen kann, ohne sie gemacht haben zu müssen. Vorausgesetzt, sie sind - und bleiben - für jedermann zugänglich.
Am stärksten tritt jene Differenz im Grenzwert der Selbsterfahrung des Menschen hervor, der sein Dasein erlebt. Immer wieder ist er von den Künsten Europas bezeugt und dargestellt worden. Im Titel, den die zitierte Hilde Domin ihren autobiographischen Aufzeichnungen gab, ist er unbeschönigt und rückhaltlos bezeichnet: „Von der Natur nicht vorgesehen“.
Ohne transzendente Bürgschaft, findet das Wesen, das sich und sein Leben verstehen will, und in seinen Bemühungen darum doch immer wieder gerade dann Unverständlichem ausgesetzt ist, wenn dessen Substanz berührt wird, sich ausgeliefert an die Gleichgültigkeit der Welt. Diese Gleichgültigkeit ist die andere Seite, und sie auszuhalten, der Preis jener ‚Säkularisierung’, die die Freiheit des Menschen der Neuzeit ermöglichte. In seiner frühen Studie >Zur Theologie der Welt< betont Johann Baptist Metz, dass der Wandel in der Weltsituation des Menschen als Umorientierung des Denkens von einer ‚kosmozentrischen’ zu einer ‚anthropozentrischen’ Denkform im letzten selbst nicht gegen, sondern durch den Antrieb des christlichen Geistes entstanden ist. Nun gilt: Der Mensch selbst aber weiß sich immer mehr der umschließenden Einheit einer vorgegebenen Natur entnommen, erfährt sich als ihr gegenüberstehendes, aktives Natur-Subjekt, das nun planend und verändernd in diese Natur eingreift, um aus ihr allererst Welt aufzubauen. Der Mensch versteht sich im Verhältnis zur Natur gleichsam als Demiurg, als Weltbaumeister, der aus dem Stoff dieser Natur sich seine Welt schafft, Welt des Menschen, hominisierte Welt (Metz, 58; 55).  Diese ‚hominisierte’, vermenschlichte Welt aber ist nichts anderes als die Welt der Kultur.
Die vermenschlichte Welt aber hat ihre Grenzen, ihre Versäumnisse und Unvollkommenheiten. Die größte unter ihnen ist das Fortdauern eben der ursprünglichen Situation, die sich immer wieder erneuert. Die Ur-Unverträglichkeit zwischen Mensch und Welt - für die im biblischen Mythos die Vertreibung aus dem Paradies steht - stellt sich in allem wieder her, was dem Menschenleben Unerträglichkeit auferlegt, im Schmerz der Krankheit oder Verlassenheit, in der Not der Existenzlosigkeit, in der böswilligen Tat, von der gedankenlos hingesprochenen Beleidigung bis zum Mord. In allem kehrt sie wieder, was einen Menschen hilflos und überwältigt sich selbst überlässt.
Jeder Mythos, jede Religion handelt davon. Und fast jedes Kunstwerk, beginnend mit der antiken griechischen Tragödie, und nicht endend mit der Lyrik eines Ernst Meister oder Durs Grünbein. Jede menschliche Bewusstseinsleistung im Bemühen, Verständnis zu mehren, richtet sich dagegen. Zum Bewusstsein der Daseinssorge geklärt, zähmen die kulturellen Manifestationen des menschlichen Daseinswillens die Daseinsangst.
Als Johann Gottfried Herder – ein Theologe, was über seiner geistesgeschichtlichen Rolle als Miterfinder der Geschichtsphilosophie übersehen wurde, bis man glaubte, die Geschichtsphilosophie als die Variante der christlichen Heilslehre durchschaut zu haben, die auf Gott verzichtet – Ende des 18. Jahrhunderts den Menschen zuerst als ‚Mängelwesen’, als ‚unfertiges Tier’ beschreibt, ist das nicht nur Zeichen verfestigter transzendenter Skepsis und fortschreitender Säkularisation des allgemeinen Bewusstseins. Es ist vor allem Zeichen einer Erneuerung menschlichen Selbstvertrauens. Kultur wird zur Praktik der Zuversicht, ein menschengerechtes Leben in dieser Welt für möglich zu halten, indem ihr nun die Aufgabe zugedacht wird, aus rein menschlichem Vermögen zu leisten, was die nun als Natur verstandene Welt der Schöpfung dem Menschen schuldig blieb.
Einmal inkarniert, müssen wir unser Leben nach den Gesetzen der physischen Welt führen; als Bewusstseinswesen aber reichen wir darüber hinaus. Dieses ‚Dazwischen’ als metaphysischer Ort des Menschen ist die Sphäre der Kultur: sie gestaltet, was wir als materielle Körperwesen sein müssen, und als Geistwesen sein können. Kultur ist alles, worauf nicht verzichtet werden kann, ohne menschliche Lebensmöglichkeit zu gefährden, soweit sie nicht von Natur gesichert ist. Deren Gewährleistung aber ist im Vergleich zum Tier so geringfügig, dass seine Kultur für den Menschen ist, was für das Tier dessen Umwelt. Sie entsteht, wenn die Bedürfnisse des Körpers erfüllt sind, und die des Bewußtseins sich zu regen beginnen.
Kultur ist der Inbegriff aller menschlichen Leistungen, die dafür sorgen, dass das Wesen Mensch, das von der Natur nur hervorgebracht, aber nicht vorgesehen ist, sein Dasein gegen die elementare Gleichgültigkeit der Welt behaupten kann. Unsere Daseinsform ist der Invalide eines abgebrochenen Werdens. Als Menschen sind wir nicht das Wesen geworden, auf das hin die Verwandlung unseres unmittelbaren Vorfahren angelegt gewesen sein muß. Die Menschwerdung hat nicht als einmaliges Ereignis in der Geschichte der Welt stattgefunden; sie setzt sich als bewusster Daseinsprozess des Menschen fort, der, noch zu viel Natur, und erst zuwenig Geist, sich als noch nicht zu sich gekommen erlebt, selbst zu bestimmen sucht, was, und wie, er  sein soll. Aus tätiger Selbstverantwortung gespeist, macht Kultur aus dem halbfertigen Produkt des Zufallsspiels der Natur ein notwendiges Wesen.
Diese Übereinkunft der neueren Anthropologie mag für jemanden, der in der Tradition des christlichen Glaubens lebt, befremdlich sein. Dabei ist der biblische Mythos eines der Urzeugnisse dieser Weltsituation des Menschen. Denn er kennt zwar eine Notwendigkeit des Menschen als Gottes Auszeichnung als letztes Wesen, auf das hin die Schöpfung gestaltet wurde; aber nicht als ein in ihr notwendiges Wesen. Mehr als einmal steht der Schöpfer kurz davor, sein Werk wieder zu zerstören. Mit der Sintflut hat er es wenigstens einmal erprobt. Die Nichtnotwendigkeit des Menschseins bezeugend, bestätigt der Mythos das Dasein des Menschen als die Prämie eigener Leistung.
Der Mensch ist das Wesen, dem kein Sein vorbestimmt ist; das sich selbst zu dem machen muß, was es sein kann. Menschen sind Wesen der Möglichkeit. Es muss uns nicht geben; sobald es uns aber gibt, müssen wir für den Fortbestand des Möglichen, das wirklich wurde, das wir sind, sorgen.
Anders als das Tier, das sich zwar ‚weiß’, aber nicht, was es ist, weiß der Mensch nicht, was er ist, weil er weiß, dass er ist: unablässige Herausforderung, aus der physischen Existenz ein durch formende Gestaltung bewußtes Dasein zu machen. Deshalb ist Kultur die natürliche Umwelt des Menschen
Der Mensch ist, was er aus dem macht, worin er sein Dasein findet; vor allem, was er aus sich selbst macht; als Individuum ebenso wie als Gattung.
 
 
IV
 
In diesem Horizont steht jede Debatte um Kultur. In ihm entscheidet sich die Frage ihre Wertes oder Unwertes. Er birgt die Motivation jeder künstlerischen Produktivität in ihrem tiefsten Ursprung.
Kein Maler malt, kein Komponist komponiert, kein Autor schreibt, weil es Galerien, Orchester, Verlage, Theater gibt – umgekehrt: weil es Maler, Komponisten, Autoren gibt, gibt es Galerien, Orchester, Verlage, Theater. Die Künste sind solange nicht wirklich in Gefahr, wie es Menschen gibt, die sie produzieren. Und andere, die ihre Produkte zum Teil ihres eigenen Lebens machen.
Alles, was das Dasein des Menschen betrifft, vor allem sonst alles, was aus ihm entsteht, ist wert zu sein, weil es ist. Denn nichts ist Ursache seiner selbst, alles ist hervorgebracht, wie der Mensch selbst. Alle seine Hervorbringungen haben ihren Wert in ihrem Ursprung, nicht in ihrer Wirkung. So ist die einzige mögliche – und darum: unbedingt erforderliche – Verteidigung der Kultur ihre Produktion. Denn wie der Künstler von dem Werk, das er hervorbringt, erst ganz geschaffen wird, so bringt die Kultur den Menschen, der sie schafft, erst ganz hervor.
In diesem Sinn gilt des Malers Asger Jorn Grund-Satz einer Ästhetik: Der Mensch ist seine Kunst (Jorn, 31). Denn weil es seine Kunst gibt, kann er immer wieder in Erfahrung bringen, wer er – gerade – ist, und in den Gebilden der Einbildungskraft Modelle dessen erproben, was er sein will.
Zu wissen, was wir sind, sein sollen und wollen, ist unerlässlich, soll unserem Leben die wichtigste seiner Grundlagen nicht verloren gehen: es als sinnvoll zu erfahren. Am deutlichsten zeigt der Sinn des Lebens sich aber an dem, was Menschen als den erfahrenen Sinn ihres einen, eigenen Lebens gestalten. Deshalb repräsentieren die Künste heute Kultur überhaupt, die einmal mit Götterkult, Ackerbau und Gottesdienst begann.
Unentbehrlich sind sie vor allem deshalb, weil es für keine der menschlichen Errungenschaften eine Fortbestandsgarantie gibt, außer den Willen zu ihrer Erhaltung. Die Lebenserleichterungen der Zivilisation täuschen in ihrer ungebrochenen Fortschrittszuversicht im Zeichen des wissenschaftlichen Verstandes darüber, dass alles, was Menschen als sich zugehörig und angemessen empfinden, jederzeit wieder verloren gehen kann. Wir müssen nicht die bleiben, die wir geworden sind; was uns auszeichnet, kann verloren gehen, jederzeit, überall.
Nichts hat darüber so einschneidend und unmissverständlich belehrt wie die Menschheitskatastrophen des 20. Jahrhunderts. Mit Herders Beschreibung des ‚Mängelwesens’ Mensch hatte auch jenes alles erfassende Denken der Geschichte begonnen, das in ihr den Bürgen des ‚Sinns’ entdeckte, ohne dessen Gewissheit keine menschliche Existenz möglich ist. Der Geschichte, die vor zwei Generationen schließlich zur Apokalypse einer anderen Offenbarung wurde, die alles erschütterte, was Europa seit zwei Jahrhunderten an Überzeugungen, Werten und Selbstvertrauen in ein neues Menschenverständnis gewonnen zu haben überzeugt gewesen war. In den Katastrophen des 20. Jahrhunderts implodiert der Humanismus.
Seitdem gilt nichts mehr von dem, was die Kultur Europas als menschliche Gewissheit hervorbrachte. Genau das macht sie unentbehrlich.
Mit jedem Buch, das aus einer geschlossenen Bibliothek nicht mehr gelesen werden, mit jedem Schauspiel, das in einem geschlossenen Theater nicht mehr dargestellt werden, mit jeder Komposition, die einem geschlossenen Konzertsaal nicht mehr aufgeführt werden, mit jedem Bild, mit jeder Skulptur, die in einem geschlossenen Museum nicht mehr betrachtet werden kann, verschwinden alle Werte, alle Einsichten und Orientierungen noch einmal, die zweitausend Jahre europäischer Geschichte zur Grundlage dafür gemacht haben, dass auch wir die ewig neue und ewig gleiche Aufgabe des Menschenlebens erfüllen können, uns in einer ungewissen Welt so zu erhalten, dass es sinnvoll gewesen sein wird, in ihr gewesen zu sein.
Auch wir sind nicht, was wir leben, wie es keiner unserer Vorfahren ganz gewesen ist; auch wir leben nicht, was wir sind, wie es kaum einem jemals gelang. Aber unsere Kultur bürgt dafür, dennoch auf den Sinn unserer Anstrengungen vertrauen zu können. Solange, wie wir sie nicht preisgeben.
 
Literatur
 
Domin, Hilde, Rückkehr der Schiffe, Ffm 1962
Domin, Hilde, Von der Natur nicht vorgesehen. Autobiographisches, München 1974
Gadamer, Hans-Georg, Verstummen die Dichter? (1970), in: ders., Poetica. Ausgewählte Essays, Ffm 1977, 103-118
Jorn, Asger, Plädoyer für die Form. Entwurf einer Methodologie der Kunst (1958), Texte zur Kunst, hg. von der Galerie van de Loo, Bd. 3, München 1990
Metz, Johann Baptist, Zur Theologie der Welt, Mainz-München 1968
Schneider, Reinhold, Soll die Dichtung das Leben bessern? (1955), in: ders., Dem lebendigen Geist, Gesammelte Werke Bd. 6, Ffm 1980, 277-289
Steffens, Andreas, In der Fremde, in: ders., Gerade genug. Essays und Miniaturen, Wuppertal 2010, 49-55