Zahnstocher

Eine heitere Erzählung

von Karl Otto Mühl

Foto © Frank Becker
Zahnstocher
 
Als ich in dieser Siedlung ein Appartement für Ältere ausgesucht habe, habe ich  niemand gesagt, daß ich im sogenannten richtigen Leben Pastor war, und, da ich in den letzten Dienstjahren in der Landeskirche gearbeitet habe, habe ich mich einfach als Angestellter eintragen lassen, und Seelenhirte war ich ohnehin weit weg im Märkischen Kreis, von daher kennt mich niemand hier. So konnte ich es bis jetzt geheim halten. Das war klug von mir, denn sonst hätten mir braven Leute hier – im Alter werden fast alle brav – manchen Spaß nicht verziehen. Von Pastoren erwartet man, daß sie würdevoll sind, und Humor paßt selten zu ihnen. So denken die Leute doch.
Ich stand gerade unten im Vorraum, aber ganz in der Ecke hinten, als ein braungebrannter, aber sicher auch schon immer dunkel getönter jüngerer Mann hereinstürmte und begann, auf die Frau hinter dem Glasfenster einzureden. Und, das muß ich dazu sagen, ganz nahe dabei stand Siegfried Stiefel, über den ich noch Einiges zu berichten haben werde. Und der hörte das rasche Gerede des Mannes, der vielleicht aus Nordafrika kam, seine hohe Stimme, die die verwirrte Frau hinter dem Glas zu überzeugen suchte, und er hörte ein Wort, das wie „Zahnstocher“ klang. Drei junge Männer oder Jugendliche, alle dunkelhaarig und hellbraun, waren inzwischen gefolgt und redeten ebenfalls auf die Frau ein, die immer ratloser wurde.
Siegfried Stiefel aber hatte schon genug gehört. Er war derjenige, der Neuigkeiten in Windeseile in unserer Stiftung verbreitete, und er eilte los, von Stockwerk zu Stockwerk, von Zimmer zu Zimmer. Inzwischen ging ich zu Frau Kanitz, die hinter dem Glas saß, und fand heraus, daß der Mann mit seinen Söhnen seinen Schwiegervater besuchen wollte, der hier bei uns  lebte. Und der hieß einfach „Zahlendorf“. Gut, daß ich da eingriff. Alles war geklärt, alles verlief harmonisch, August Zahlendorf bekam Besuch von Schwiegersohn und Enkelsöhnen. –
Nicht so ruhig aber war es oben in den Appartements und Fluren. Siegfried Stiefel war herumgegangen, hatte die Mitbewohner alarmiert, bedrohliche Menschen seien in Anmarsch und verlangten ultimativ nach Zahnstochern. Wenn nicht, würde Schreckliches passieren. Er habe gesehen, daß sie Messer bei sich trügen.
Die ganze Siedlungsbevölkerung war alarmiert. Frau Schwarzkopf rief sofort ihren Sohn an, der Polizeipräsident war, Herr Baumer kroch ins Bett und zog die Decke über den Kopf, Frau Lauss schob von innen einen Tisch vor ihre Zimmertüre; jeder versuchte, sich unsichtbar zu machen. Ins untere Stockwerk traute sich niemand.
Niemand hatte Zahnstocher. Alle hatten andere Methoden, Zähne und Zahnersatz zu pflegen. Aber schließlich fand sich eine ältere, angebrochene Packung von diesen Hölzern bei Frau Reinhardt –
Ich sagte ihr, sie möge sie an Siegfried Stiefel zur Weiterleitung geben.
„Sie können sie ihm bringen,“ sagte ich zu ihm. „Der Schwarze steht  noch da unten.“
Aber da verließ Siegfried der Mut. Er könne kein Französisch, das sei eine der wenigen Sprachen, die er nicht beherrsche, aber gerade das würde dieser gefährliche Kerl vielleicht sprechen, und ob ich das nicht besser machen sollte? Alles blickte gespannt auf Siegfried, der sich doch bisher in dieser gefährlichen Situation so hervorgetan hatte.
Ich mache es kurz. Ich verschwand, kam zurück, postierte mich vor Siegfried und der Zuhörerschar und sagte feierlich: „Der Scheich Hassan dankt für Ihre wertvolle Hilfe und läßt Ihnen durch mich diesen Orden  überreichen.“ Damit gab ich ihm eines jener goldgeprägten Pappdeckel-Anhängsel von einer Pralinenschachtel.

Es dauerte eine Weile, ehe Siegfried Stiefel wieder lächeln konnte. Zunächst war er sprachlos. Aber die anderen, die um uns herumstanden, fingen schon viel früher an zu lachen. Ich hatte den Eindruck, daß es für Siegfried eine total neue Erfahrung war, daß über ihn gelacht wurde, und, noch mehr, daß von ihm erwartet wurde, daß er mitlachte.



© Karl Otto Mühl - Erstveröffentlichung in den Musenblättern 2007