Der polnische Kuß
Gustav, ein Angestellter aus dem Ruhrgebiet, verbrachte einen Sommerurlaub mit seiner Ehefrau im ehemaligen Ostpreußen in unmittelbarer Nähe der Stadt Allenstein. Von Freunden hatten sie die Adresse einer deutschen Familie bekommen, die nach dem Krieg in Polen geblieben war und in einem kleinen Dorf namens Bartog lebte, das mit Fahrrädern von Allenstein aus leicht zu erreichen war. Das Ehepaar besuchte diese Deutschen gern, vor allem, um mit ihnen Forellen zu räuchern und die Pfifferlinge zuzubereiten, die sie in den Wäldern um Bartog fanden.
Bei einem dieser Besuche hatten die Polen-Deutschen ein Anliegen. Da sei eine polnische Nachbarfamilie, Bauern, einfache gute Leute, große Trinker und ihre besten Freunde. Bei denen sei vor drei Tagen ein Kind getauft worden und die Feier sei noch in vollem Gange. Diese Polen hätten einen großen Wunsch, nämlich daß die Deutschen mit ihrem Fotoapparat kommen sollten, um ein paar Bilder von der Taufgesellschaft und dem Kind zu machen. Ob er, Gustav, dazu bereit sei.
Sie gingen die wenigen Schritte hinüber zum Bauernhof und wurden in die Küche geführt. Nein, die Wohnstube sei leider noch nicht wieder hergerichtet, außerdem schlafe dort noch der Großvater.
Die junge Bäuerin, Mutter des Täuflings, packte ihr Bündel Kind in einen Kinderwagen und rannte die Dorfstraße hinunter, um neuen Wodka zu kaufen. Als sie zurückkehrte, goß sie ein Wasserglas voll, tauchte den Finger in die Flüssigkeit und gab ihrem Säugling den Finger zum Nuckeln.
Schlaf schön, Kleines, lächelte sie.
Ihr und den anderen von der Taufgesellschaft war anzusehen, daß sie seit drei Tagen nicht aus ihren Kleidern herausgekommen waren. Es würde aber das Bild dieser Taufgesellschaft verfälschen, wenn man hier Einzelheiten, die einem gelackten Deutschen bei solchen Gelegenheiten gemeinhin auffallen, niederschriebe. Sie hatten tapfer getrunken und gefeiert und waren während dieser drei Tage ganz bei der Sache geblieben. Ja, es waren Scheiben zu Bruch gegangen; ja, der Hausherr blutete stark aus einer Wunde am Ohr; ja, es lag Hausgerät vor der Türe auf der Wiese bei den Gänsen; ja, die auf der Leine hängende Wäsche war von den vorbeitrabenden Kühen ein bißchen angeschmutzt... Aber eine Taufe ist ein ernsthaftes, wichtiges Fest, das nicht von irgendwelchen Nebensächlichkeiten unterbrochen werden darf.
Gustav und seine Frau fühlten sich zu diesen Leuten hingezogen, vielleicht weil sie solche Art depressiver Fröhlichkeit noch nie erlebt hatten. Gustavs Frau setzte sich etwas abseits zur Großmutter, die quengelnd noch ein Gläschen verlangte, während Gustav auf der Küchenbank sitzen blieb, wo ihm die Bäuerin näherrückte. Er ließ sich Wodka nachfüllen, aß mit Genuß von der fettigen Leberpastete und ließ sich mit Wohlbehagen von der Bäuerin mit Blutwurst, tranigen Fischstückchen und Zwiebeln füttern. Sie selbst aß mit guten Appetit, legte ihren Arm um seinen Hals und die Pausen zwischen den Wodkaschlückchen wurden kürzer. Schließlich stellte sie das Glas auf den Tisch, wischte sich die Hände am Kleid ab, zog Gustav zu sich und küßte ihn auf den Mund, als gälte es, alle Küsse des Lebens in diesem einen zu geben.
Gustavs getrübter Blick nahm in der Ferne Ehefrau, Großmutter, ein blutiges Ohr und die helle Wodka-Flasche wahr: wie die Bühnendekoration in einem fremden Stück, in das er versehentlich hineingeraten war.
© Hermann Schulz - Erstveröffentlichung in den Musenblättern 2007
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