Turandot in Dessau

Expressive Dramatik und zarte Lyrismen

von Alexander Hauer
Dessau
Turandot
Premiere 25.09.2010
 

Turandot, Giacomo Puccinis letztes, unvollendet gebliebenes Werk erlebte am Anhaltischen Theater Dessau zum Beginn der neuen Spielzeit eine glanzvolle  Premiere. Unter der musikalischen Leitung von Antony Hermus erstrahlte aus dem Graben die Anhaltische Philharmonie mit orientalischem Goldglanz.
 
Auf der Bühne gesellte sich zu den überragenden Stimmen ein neues Juwel hinzu: Sergey Drobyshevskiy als Calaf. Seine Interpretation des unbekannten Prinzen stellt so manche beliebte Studioaufnahme in den Schatten. Kongenial  seine Gegenspielerin und Objekt der Begierde Iordanka Derilova.  Das „Stimmwunder“ von Dessau wurde von Angelina Ruzzafante als Liu und Pavel Shmulevich als Timur vervollständigt. Expressive Dramatik auf der einen Seite, auf der anderen zarte Lyrismen prägten die beiden Sopranpartien. Pavel Shmulevich gab mit scheinbar unergründlich tiefem Baß den alten König Timur. Wiard Withold, Angus Wood und David Ameln waren ein erfrischendes Hofschranzengespann Ping, Pang und Pong. Adam Fenger überzeugte mit sonorem Bariton als Mandarin. Klaus Gerber interpretierte den Kaiser Altoum als altersschwachen, gebrochenen Mann. Der Chor unter der Leitung von Helmut Sonne, verstärkt durch Mitglieder des Coruso Chores aus Berlin, agierte als textverständlicher und beweglicher Klangkörper, an dessen sängerischer Raffinesse sich mancher Opernchor aus größeren Häusern messen lassen muß.
Allein diese Konstellation, dieses musikalische Juwel, jener Hochgenuß der italienischen Oper, würde reichen um einen Besuch in Dessau für eine konzertante Oper zu rechtfertigen. Aber ein Opernabend ist mehr als ein Konzert. In Dessau kam zu der Musik auch eine überragende Inszenierung dazu.


Iordanka Derilova, Angelina Ruzzafante, Sergey Drobyshevskiy - Foto © Claudia Heysel

Andrea Moses, die für ihren „Lohengrin“ eine Faustnominierung erhielt, brachte in Dessau ihre Weimarer Turandot in einer Überarbeitung heraus. Turandot ganz ohne  Chinoiserien, ganz ohne Drachen, Phönixe und Einhörner. Die Ausstattung von Christian Wiehle verbannte in der Konzeption Andrea Moses‘ alles Asiatische von der Bühne. Das Volk von Peking mutierte zu einer entmenschlichten Gesellschaft, die nur noch für den Kick lebt. In einer, einem Fernsehstudio nicht unähnlicher Arena hält Turandot, die Showmasterin ihr großes Quiz ab. Der Einsatz ist hoch, wenn die drei Fragen nicht korrekt beantwortet werden, droht der Tod. Der Preis ist dem Risiko angemessen, ein Leben an der Seite von Turandot. Und ähnlich dem Publikum von beliebten Castingshows wie DSDS, X-Faktor, etc. giert es auch in „Turandot’s Riddle Club“ nach dem Scheitern der Kandidaten. Eine elitäre Gesellschaft, ganz in schwarz-weiß, den beiden Trauerfarben der östlichen und der westlichen Welt gekleidet, erhält mit VIP-Paß Zutritt zur Arena. Das einfache Volk, die Underdogs, die Gescheiterten, von Wiehle in schmuddeliges Grau gekleidet, bleiben unter dem Spott der Elite außen vor.

Calaf ist bei Andrea Moses nicht der strahlende Held, sondern ein liebesunfähiger Egoist. Genau wie Turandot ist auch er bereit, über Leichen zu gehen, wenn er seine Wünsche und Befindlichkeiten durchsetzen will. Alle, die ihm  zu Beginn der Oper lieben, sein Vater Timur und die Sklavin Liu, sind am Ende der Oper tot. Deren Sterben hat nur einer zu verantworten: Calaf. Und an diesem Punkt setzt die geniale Inszenierung Andrea Moses an. Es geht nicht um fehlgeleitete Liebe zwischen zwei Menschen, ihr geht es um zwei Übermenschen Nietzsche´scher Prägung. Aus diesem Blickwinkel heraus liest sich die Partitur der Turandot wie eine Anleitung zur Schaffung eines Superhelden: Das Fehlen von Gefühlen, die Verleugnung von Liebe, die Rücksichtslosigkeit anderen gegenüber, der Wunsch im Mittelpunkt zu stehen und vor allem die Stilisierung des Ichs werden aus dir einen Superstar, hier den neuen Kaiser von China, machen.

Andrea Moses mischt die Zeiten in ihrer Turandot. Die Grundlage ist die Entstehungszeit der literarischen Vorlage. Im 18. Jahrhunderts tauchte die persische Erzählung (Haft paika r- Sieben Schönheiten, Nizami um 1140-1209) von der grausamen Prinzessin in Paris auf. Zu einer Zeit in der Exekutionen, Folter, etc. durchaus auch noch einen Unterhaltungswert hatten. Die Welt William Shakespeares war noch nicht so weit entfernt, der Pariser Hof bot genügend Platz für Intrigen und Skandale. Die zweite Zeitebene ist die der Entstehung der Oper. Zur gleichen Zeit wie Puccinis Alterswerk entstanden Freuds Traumdeutung, Arthur Schnitzlers „Traumnovelle“ aber auch Schlagerschmonzetten wie „Leila“ (Leila, küsse mich und quäle mich, denn ich liebe nur dich).  Die dritte Ebene ist unsere Zeit, die durch wachsende Brutalität, ansteigenden Egoismus und einer erschreckenden Gleichgültigkeit gegenüber Dritten geprägt ist.
Dies Alles wird von Andrea Moses ohne moralisierende Haltung dargestellt, sie weist keine Schuld zu, sie spiegelt nur das Tagesgeschehen  in überzeichneter Form. Am Ende, wenn Turandot und Calaf zusammengekommen sind, wenn das Volk von Peking im Siegestaumel die Penner ermordet hat, knien die beiden Protagonisten am Bühnenrand und bedrohen sich in sexueller Verzückung gegenseitig mit Messern.


Iordanka Derilova - Foto © Claudia Heysel

Der Abend endete unter frenetischen Beifall für Sänger, Chor, Orchester und das Regieteam. Ein tobendes Haus, das den Premierenabend  auch schon mit Szenenapplaus bedachte, steigerte sich in einen schier unendlichen Beifall.
Sachsen Anhalt und die Stadt Dessau besitzen in ihrem Theater einen Kulturort auf den so manches „erste“ Haus dieser Republik neidvoll schauen sollte. Für diese Turandot vergebe ich uneingeschränkt 5 Sterne - aber nur weil ich keine 6 vergeben kann. Die weiteste Anreise lohnt sich, und wer dann das „Chinesische“ immer noch vermißt, kann danach gerne in den „Goldenen Drachen“ essen gehen.
 
Bilder © Claudia Heysel

Redaktion: Frank Becker