Fränzi und Marcella
Zwei Modelle der „Brücke“-Künstler im Fokus des Sprengel-Museums Hannover 1909, vier Jahre nach Gründung der expressionistischen Künstlervereinigung „Brücke“ in Dresden, taucht in den Zeichnungen und Gemälden von Ernst Ludwig Kirchner, Erich Heckel und Max Pechstein ein junges Modell auf, Fränzi, damals noch nicht einmal neun Jahre alt. Und kurz danach kommt Marcella hinzu, mit ihren vierzehn Lenzen ebenfalls noch blutjung. Lange galten diese beiden Modelle als Schwestern, Kinder eines verstorbenen Artisten. Es ist das Verdienst einer schönen Ausstellung, die derzeit im Sprengel-Museum in Hannover zu besichtigen ist und natürlich das Resultat vorangegangener intensiver Forschungen, daß wir heute nicht nur wissen, daß es sich bei Fränzi und Marcella nicht um Geschwister gehandelt hat, wie jahrzehntelang angenommen wurde, sondern daß wir auch die
Faszination des Kindhaften
Neben anderen Frauen waren es diese beide zarten Mädchen, die den Brücke-Künstlern für zahllose Zeichnungen, für eine Reihe von Ölgemälden und für etliche druckgrafische Arbeiten als Modelle dienten. Dabei dominieren die Aktdarstellungen, und es stellt sich die Frage, was für Kirchner, Heckel und Pechstein die Attraktion Fränzis, dieses Kindes, und der kaum älteren Marcella ausgemacht haben könnte. Dazu Kirchner im Jahr 1910: „Marzella ist ganz heimisch geworden und entwickelt feine Züge. … Es liegt ein großer Reiz in einem solchen reinen Weibe. Andeutungen, die einen wahnsinnig machen können. Toller als die älteren Mädchen. Freier, ohne daß doch das fertige Weib verliert. Vielleicht ist manches bei ihr fertiger als bei den reiferen und verkümmert wieder. Der Reichtum ist sicher größer jetzt.“ Ganz ähnlich wie zahlreiche andere Künstler ihrer Zeit befanden sich auch die Brücke-Maler auf der Suche nach Ursprünglichkeit, Natürlichkeit und Unverfälschheit, jenseits des eng geschnürten Zivilisationskorsetts, des bombastischen historischen Ballasts und der Dekadenz und erstickenden Doppelmoral des Fin de siècle. Die üblichen Akademienormen galten als überholt und wurden aufs schärfste abgelehnt, Impulse für eine Erneuerung der Kunst suchte und fand man in der Kunst der Naturvölker, in der Volkskunst (dies gilt vor allem für den Münchner „Blauen Reiter“) und in den bildnerischen Ausdrucksformen der Kinder (später auch in der Bildnerei der Geisteskranken). Schon im Jahr 1887 war das Buch „L’arte dei bambini“ (deutsch „Kinderkunst“) des italienischen Kunsthistorikers Corrado Ricci erschienen, und 1900, genau zu Beginn des neuen Jahrhunderts, machte die schwedische Reformpädagogin Ellen Key mit der bahnbrechenden Schrift „Das Jahrhundert des Kindes“ Furore. Das waren Bücher, die zu einer Neujustierung und -bewertung des Kindes und der Kindheit führten.
Zurück zur Natur
In den Zeichnungen und Gemälden, die jetzt in Hannover ausgestellt sind, werden wie in einem
Im bewußten Gegensatz zur sterilen Manier des akademischen Aktzeichnens, zum peniblen Detailstudium der menschlichen Figur, praktizierten die Brücke-Künstler mit Vorliebe zunächst den sogenannten Viertelstundenakt, der auf ein rasches Erfassen der hauptsächlichen Formmerkmale zielte. Später wurde das Tempo erhöht. Im kleinen Format entstanden in kürzester Zeit knappste Aktnotate, hieroglyphenartige Abbreviaturen – im herkömmlichen Sinne nicht immer „richtig“, dafür aber von gesteigertem Ausdruck. Für eine derart antiakademische Praxis waren Berufsmodelle mit ihren einstudierten Routineposen kaum geeignet. In Fränzi und Marcella fanden Kirchner und seine Künstlerfreunde Modelle, die nicht durch die übliche „Akademiedressur“ deformiert, ja denaturiert waren, sondern die sich unverbraucht als „natürliche“ Geschöpfe mit ungezwungenen Haltungen und Bewegungen präsentierten. Diese Aktstudien spielten sich nicht nur im Atelier ab, sondern im Sommer auch unter freiem Himmel an den Moritzburger Seen bei Dresden. Hier lebten die Brücke-Künstler ihren Traum von einer neuen Einheit von Mensch und Natur, einer Einheit, die im Zivilisationsprozeß mehr und
Neben den kaum bekannten, spontan niedergeschriebenen Zeichnungen (oft aus Privatbesitz) dominieren in der Ausstellung natürlich die farbprächtigen Ölgemälde, die längst zu Ikonen der Malerei des Expressionismus geworden sind. In ihrer gesteigerten Farbigkeit, ihrer entschiedenen Flächenbetonung, ihrer absichtsvollen Formverzerrung und ihrem spontanen Malduktus erscheinen sie auch hundert Jahre nach ihrer Entstehung immer noch ausgesprochen modern.
Mißbrauchsverdacht
Bedauerlich ist, daß in der Ausstellung – von biografischen Wandtexten abgesehen – erklärende Sach- und Hintergrundinformationen fehlen. Ist es das verbreitete Grauen der Ausstellungsmacher vor der Pädagogik und allem Pädagogischen oder ihre Arroganz gegenüber dem Museumsbesucher, die sie allein auf die vermeintlich auratische Ausstrahlung der Kunstwerke und ihr selbsterklärendes Potential bauen läßt? Eine behutsam flankierende Didaktik wäre der schön gehängten Ausstellung sicherlich gut bekommen. Dies gilt ganz besonders im Hinblick auf eine Frage, die sich angesichts des Mißbrauchsdiskurses der letzten Zeit in imperativer Weise aufdrängt. So zeigt eine kleine Zeichnung Kirchners den Künstlerkollegen Erich Heckel „im Gespräch“ mit der nackten Fränzi (so der behelfsweise Titel des Blattes), eine andere einen nicht näher bezeichneten Mann, der das
unbekleidete Modell umarmt. Obwohl hier Aufklärung dringend vonnöten wäre, präsentieren sich derartige Arbeiten unkommentiert. So bleibt der Besucher auf den Audioguide oder, besser noch, auf das gut recherchierte Katalogbuch mit seinen fundierten Beiträgen angewiesen. Darin hat die Religions- und Kulturwissenschaftlerin Irene Berkel zur Problematik des Verdachts des sexuellen Mißbrauchs einen sehr lesenswerten, überaus differenzierten Beitrag geleistet. Im Hinblick auf die Brücke-Künstler gibt sie „Entwarnung“, wenn sie abschließend feststellt, daß angesichts der aktuellen Debatte „einst als unverdächtig betrachtete Formen der Zärtlichkeit und Zuneigung zwischen Erwachsenen und Kindern … den Eindruck einer unverfänglichen Vertrautheit verloren“ haben. Der Blick auf Fränzi und Marcella.
Zwei Modelle der Brücke-Künstler Heckel, Kirchner und Pechstein
Sprengel Museum - Kurt-Schwitters-Platz 1 - 30169 Hannover
Bis 9. Januar 2011 - dienstags 10-20 Uhr, mittwochs bis sonntags 10-18 Uhr, montags geschlossen Katalogbuch mit einem Vorwort von Ulrich Krempel und Katja Schneider und Beiträgen von Norbert Nobis, Gerd Presler, Karin Schick und Irene Berkel; 160 Seiten mit zahlreichen farbigen Abbildungen; Museumsausgabe 24,00 €, ISBN 978-3-89169-215-8 Weitere Informationen: www.sprengel-museum.de/ausstellungen/mythos-fraenzi-und-marzella |