Die Macht der Gedanken

Erotische Stunde III

von Karl Otto Mühl

Foto © Frank Becker
Erotische Stunde III
(Die Macht der Gedanken)
 
 
Der helle, große Büroraum, den man sich, wenn man draußen ist, grundlos stauberfüllt und staubdurchwirbelt vorstellen möchte, enthält nichts als freudlose Dinge, freudlose Möbel, freudlose Ordnerreihen, freudlose, dunkelgrüne Schreibunterlagen und einen freudlosen, elektrischen Kaffeetopf. Die Büros der kommunalen Verwaltung sehen meistens so aus, oder sie bekommen eben nach und nach modernere, stählerne Schreibtische, die sich kalt anfühlen. Nicht einmal das ausgewickelte Pausenbrot passt zu ihnen.
 
Aber es war sein Büro, es war über dreißig Jahre lang die Heimat des Mannes, dessen Auto jetzt in der Nähe des Einkaufzentrums am Stadtrand hielt. Es war sein Schicksal geworden, ohne dieses Büro hätte er ein völlig anderes Leben führen müssen, und das würde ihm schwierig erscheinen. Er hätte sich nicht vorstellen können, ein anderes Leben als das eines leitenden Amtsdirektors zu führen.
Er war etwas erschöpft von der Arbeit mit der Physiotherapeutin, die sein Bein nach der Operation wieder beweglicher machen sollte. Darum gönnte er sich einige Minuten entspanntes Sitzen im Auto.
 
Als er einparkte, hatte eine junge Frau am Straßenrand gewartet, um nun rasch auf die andere Straßenseite zu gehen. Sie trug Jeans-Kleidung. Auf dem Ärmel befand sich ein auffälliges, aber für den leitenden Amtsdirektor unlesbares Emblem. Lässig über der Schulter hing eine Einkauftasche aus Glanzkarton, sicher aus einem Modegeschäft oder einer Parfümerie. Sekunden hatten für den Leitenden ausgereicht, um ein hübsches, stilles Gesicht zu erkennen, aber noch stärker bemerkte er die attraktive Figur, wie er sich eingestand.
Es darf mir gefallen, dachte der Leitende, man macht heute kein Geheimnis mehr daraus, es wird in der Zeitung erwähnt, die Trainingsprogramme der Fitness-Center zitieren es offiziell, sie bieten BOP-Training an, das heißt Bauch, Oberschenkel, Po. Na also.
 
Aber dies hier war mehr als Gefallen. Der Anblick dieser Körperformen erfüllte ihn wie beginnender Rausch. Wenn er es sich nun schon einmal eingestanden hatte, so dachte er, so konnte er ruhig noch ein paar Phantasien daranhängen. Und das tat er. Er träumte von dem Augenblick, wo er eines jener zarten Gespinste über diese Rundungen ziehen würde.
Dann aber gab sich der Leitende einen Ruck, wischte alle Vorstellungen beiseite, stieg aus und begab sich in den Innenbereich des Zentrums, um in der Drogerie Foto-Abzüge abzuholen. Auf dem Wege erfüllten ihn Gedanken, die man jetzt Sekundär-Literatur nennen könnte, Reflexionen, die sein Verhalten in der gegenwärtigen und in früheren Situationen bewerteten. Er hatte schon länger verstanden, daß er darum seit Jahrzehnten Abenteuer mit Frauen vermied, weil er sich wehrlos und verführbar wußte. Und dies paßte nicht zu einem Beamten. Diese Haltung, die Affären schon im Vorfeld vermied, hatte er so stark verinnerlicht, daß er sich auch jetzt sicher fühlte. Keinen Augenblick lang jedoch dachte er darüber nach, daß er vielleicht zu alt für diese junge, schöne Frau wäre.
 
Im Näherkommen konnte er durch die Schaufensterscheiben in den Verkaufraum blicken. Es waren keine Kunden zu sehen - doch, da stand sie! Sie suchte etwas aus, hielt es in der Hand, betrachtete es. Durch die großen Scheiben konnte er ihren Anblick genießen. Er fühlte es: Die freudige, begierige Umarmung durch solch eine Frau konnte ein Leben verändern.
 
Als er noch im Auto saß, war sie doch in die entgegengesetzte Richtung gegangen, hatte sich auf den Höhenweg zu dem Siedlungsausläufer gegenüber  begeben. Und nun war sie plötzlich hier. Das konnte doch nicht sein. Vielleicht war es wirklich die unsichtbaren Macht der Gedanken, die sie in Minutenschnelle hierher gezogen hatte? Heimlich hatte er schon immer an solche Möglichkeiten geglaubt, und diese Zeit fing ja an, sie wieder zu entdecken.
Es war sehr unheimlich. Ein undurchschaubares Schicksal trug einen, als sei man schwerelos - aber, er wußte es, irgendwann ließ es jeden Menschen fallen, und dann war das Geschrei groß.
 
Der Leitende ging nun rasch weiter zu einem Kanalschacht, den einige Arbeiter freigelegt hatten. Er sah ihnen eine Zeit lang zu. Er ließ sich Zeit. Die Versuchung brauchte Zeit, um zu verschwinden. Als er wieder an der Drogerie vorbeikam, war sie immer noch da. Sie stand an der Kasse, um zu zahlen. Er ging rasch in den Zeitungsladen nebenan und suchte lange nach einer Illustrierten, die er eigentlich nicht wollte.
Als er wieder herauskam, sah er jetzt sie vor den Schaufenstern der Drogerie stehen, ausführlich die ausgestellten Waren - darunter Dünger und kleine Schaufeln für den Kleingarten - betrachtend.
Der Leitende wollte nicht an ihr vorübergehen - zu bedrohlich schien ihn das Schicksal zu verfolgen, sondern er eilte in die wenige Meter entfernte Metzgerei, wo er ein großes Stück Sülze mit eingeschlossenen Wurststückchen erstand. Als er herauskam, war sie nicht mehr zu sehen. Er atmete erleichtert auf, aber das süße Gefühl war noch nicht aus seinem Körper verschwunden. In die Drogerie wollte  er sich heute nicht mehr wagen.
 
Er ging zu seinem Auto und setzte sich hinter das Steuer. Es wunderte ihn nicht, als sie wieder auftauchte, vor seinem Wagen über die Straße ging und drüben begann, den ansteigenden Gehweg zu einer Häusergruppe im Grünen hinaufzugehen. Wieder sah er die liebreizende Person in Bewegung - eine süße Frau, die dennoch nicht aufreizend und alarmierend war. Liebreiz wäre kein schlechter Ausdruck für sie, dachte er.
 
Er dachte es noch, als er in den Vorraum des Pflegeheims trat, wo einige Alte in den Ecken saßen. Im ersten Stock fragte er die Stationsschwester, wo seine Frau sei.
„Da, im Tagesraum. Da, sehen Sie, da am Tisch!“
Sie saß mit ausdruckslosem Gesicht zwischen älteren Frauen. Als er nähertrat, blickte sie auf und fragte: „Nimmst du mich mit nach Hause?“
 
„Bald“, sagte er. „Ganz bald.“
 
 

© Karl Otto Mühl - Erstveröffentlichung in den Musenblättern 2010