Zwei Tage im Juli

Aufzeichnungen

von Karl Otto Mühl
Zwei Tage im Juli
 

Trauerfeier für Bruno
 
Juli-Hitze. Wie ich erfahre, soll die Temperatur heute gebietsweise auf neununddreißig Grad steigen. Aber unsere Reise ist unabdingbar. Wir fahren ins Hessische, in eine Kleinstadt, zur Trauerfeier für Bruno, meinen Freund seit 1942. Er lebte in den letzten vierzig Jahren in Spanien und wurde Neunzig.
 
In der Kirche waren etwa sechzig Trauergäste, alles bodenständige Kleinstadtbürger, die Bruno teilweise schon von Jugend an kannten. Ein Neunzigjähriger saß mir gegenüber. Er war zusammen mit Bruno konfirmiert worden. Ein anderer älterer Mann, vielleicht Siebzig, saß uns gegenüber, war besonders freundlich und höflich, er klopfte ans Glas, hielt eine kleine Ansprache, in der er besonders dem jungen, engagierten Pastor für seine Trauerrede dankte. Der Pastor hatte mit seiner frischen, offenen Art Sympathien gewonnen, auch unsere, ob wohl Rede und Feier ganz konventionell waren. Dafür erwähnte unser Gegenüber Bruno mehrfach lobend, als immer noch deutlich erinnert, obwohl der doch schon fast ein halbes Jahrhundert im Ausland lebte. Davon war jetzt nicht die Rede, wohl aber hörten wir einige geeignete, lateinische Zitate, unter anderem eines über den homo religiuosus.
Andere Ansprachen gab es nicht, Trauerfeiern verlaufen wohl oft so. Am Tage danach habe ich begonnen, mich zu ärgern, dass ich nicht den Mut gefunden hatte, in diesem heißen Gasthaus-Saal eine kleine Rede zu halten, eine Abschiedsrede für meinen Freund, der mir so nah wie ein Bruder war. Er war mein Bruder, weil er sich nie anders verhielt. Er schmeichelte nicht, er hatte keine Geheimnisse vor mir, er beschönigte nichts, er war da, wenn man ihn brauchte.
 
Ich glaube, ich bin nur darum nicht so traurig, wie ich sein müßte, weil ich  mich so fühle, als könne ich noch alles rückgängig machen, als könne ich mich umdrehen und er schlurft durch den ägyptischen Sand an dem Zelt vorbei, in dem ich zusammen mit neun anderen deutschen Kriegsgefangenen schlafe. Er hat ein englische Lehrbuch unter dem Arm, Schultern und Kopf hängen ein bißchen, das Gesicht scheint gleichmütig und ausdruckslos. Er geht zum Gemeinschaftszelt, wo er eine Gruppe von uns in Englisch unterrichtet. Mittags kommt er aus dem Küchenbericht, wo er sich über die Konsistenz der heutigen Suppe informiert hat, und nun berichtet er uns. Er teilt für uns drei Apfelsinen auf, die unser Zelt zugeteilt bekommen hat. Er wird immer wieder dorthin gerufen, wo einer gebraucht wird, der absolut ehrlich und fair ist.
 
Der stille, harmlos wirkende Kerl war bei den Fallschirmjägern. Vielleicht wollte er merken lassen, daß er zwar wie ein Nobody aussah, aber doch ein toller Kerl war. An so etwas wird er nicht mehr gedacht haben, als er am Fallschirm über Kreta schwankte, während seine Kameraden rechts und links bereits in der Luft von den Engländern abgeschossen wurden.
An dieser Stelle muss ich sehr weit vorgreifen: Bruno ist später reich geworden. Man hat ihm als Finanzberater Geld anvertraut und er hat es immer richtig angelegt. Zum Nutzen seiner Kunden, aber für ihn hat es sich eben auch gelohnt.
 
Aber jetzt bin ich mit ihm noch in englischer und amerikanischer Kriegsgefangenschaft. Er, Kurt und ich klammern uns fünf Jahre lang wie eine Familie aneinander, es gelingt uns, zusammenzubleiben, und wir fühlen uns sicher wie in einer Familie. Der Zug mit uns Kriegsgefangenen rumpelt durch Nordamerika, er hat keine Toiletten, aber Bruno hat schweren Durchfall. Wir plazieren leere Büchsen unter Brunos nackten Hintern, und trotz Gerumpel erledigt der sein Geschäft zielgenau.
 
Fünfzehn Jahre später hat er es bereits geschafft. Er lädt mich nach Spanien ein, wo er als Finanzmann arbeitet. Er lebt in einer weißen Villa, hat eine Frau und Kinder, ein Kindermädchen, einen Gärtner, ein Hausmädchen und eine Zugehfrau für die Wäsche. Und er hat immer noch dieses gleichmütige Gesicht mit einem Ausdruck, der um niemanden wirbt, und den jeder liebt, wie man das Gesicht einer gutherzigen Großmutter liebt.
Er schaukelt mich im Auto durch die Pyrenäen. Er besucht Kunden. Manchmal sind auch solche darunter, die in gottverlassenen Orten in einsamen, kleinen Häusern leben. Aber auch sie sind Kunden von ihm. Für manche nimmt er das Geld gleich in bar mit nach Barcelona. Später erzählt er mir, dass unter seinen Kunden auch Schmuggler gewesen sein mögen. Die brauchten eben besonders ehrliche Berater. Das sagt er mit völlig gleichmütigem Gesicht, aber seine Augen funkeln listig und amüsiert..
 
Seine Frau bekommt Krebs, er reist mit ihr durch die Welt von einem Spezialisten zum anderen. Am Schluß macht sie noch eine Überhitzungstherapie durch. Dann stirbt sie. Er lebt weiter allein in Spanien, wo er nach einigen Jahren eine deutsche Lehrerin, die dort unterrichtet, kennenlernt. Sie heiraten.
Mit ihr lebt er einige Jahre lang in Deutschland, und da sehen wir uns oft. Und immer noch fühlen wir uns wie eine Familie, die so selbstverständlich zusammengehört, daß man es nicht zeigen muß. Und solche Leute stehen füreinander auch außerhalb jeder Kritik. Wir haben nichts aneinander auszusetzen.
 
Aber seine zweite Frau hat Depressionen. Immer wieder spricht sie von den schrecklichen Dingen, die passieren können. An einem Tag, an dem er erst am Abend zurückkehrt, springt sie vom Balkon und ist tot.
Sein Gesicht zeigt keine Regung, als er mir berichtet. Grundsätzliches über Tod, Schicksal und Leben sagt Bruno ohnehin nie. Durch diese Züge von ihm ist mir der Gedanke gekommen, daß Hessen überhaupt so sein könnten – gleichmütig und mit einer Liebe zu selbstverständlicher Ehrlichkeit. Zumindest, wenn sie wollten.
Er war schon über Achtzig wie ich, als er vor einigen Jahren Winnie kennenlernte. Die war und ist energisch, geschäftstüchtig, selbstständig, die verschonte ihn - so wie er uns - mit dem Ausdruck von Gefühlen. Aber gestern, bei der Trauerfeier, war ihr Gesicht wie versteinert.
Sie weiß wie ich, daß sie nie mehr einem treueren, ehrlicheren und liebenswerteren Menschen begegnen wird als Bruno.
 
 
In einer kleinen Stadt
 
Nach der Trauerfeier sind wir noch am Nachmittag zurückgefahren, um in der kleinen Universitätsstadt in der Nähe zu übernachten. Das Hotel hatten wir telefonisch gebucht, es liegt nur wenige Kilometer von der Stadt entfernt, in der unsere jüngste Tochter studiert.
Zuerst wollten wir im Hotel unsere feierliche Kleidung wechseln und duschen, denn die drückende Hitze ließ uns nicht aus ihrem Griff. Nur im Auto war es kühl gewesen, jetzt, als wir in das Örtchen fuhren, schlug uns wieder die heiße Welt entgegen.
 
Wir waren in eine grellweiße Geisterstadt eingefahren. Wir sahen einen einzigen Einwohner auf dem Bürgersteig, sonst war auf der Fahrt zum Hotel niemand in den Straßen. Es gab aber auch keine Bauernhäuser zu sehen, nur Wohnhäuser, in denen, wie wir später erfuhren, Leute aus den umliegenden Industriefirmen wohnen, vor allem aber aus der Universität, die hier der größte Arbeitgeber ist.
Das Hotel sieht von außen wie ein großer Landgasthof aus, aber innen hat es guten Komfort. Getränke im Kühlschrank und das Telefon sind gratis – aber eigentlich wollte ich nur eines hier festhalten, das Gespräch mit dem älteren Mann an der Rezeption...
 
Er ist gut genährt, aber nicht fett, und ich merke bald, daß er kein gewöhnlicher Portier ist. Nein, er der Seniorgeschäftsführer, er hat viele erfolgreiche Managerposten im Leben gehabt, jetzt ist er Einundsechzig. Nach dem Tode seines Bruders haben die zwei Söhne unseres Gesprächspartners das Hotel und sieben andere Geschäfte geerbt. Die anderen Erben haben verzichtet. Unter welchen Bedingungen und warum, erfahre ich nicht. Es klingt so, als habe man ihn einfach noch glücklicher machen wollen. Die Witwe des Bruders sitzt draußen im Garten beim Nachmittagskaffee.
Wunder über Wunder. Ein Mensch, dem im Leben alles gelungen ist.
Ich bin ein glücklicher Mensch, sagt er, und er schaut mich dabei freundlich und offen an.
Richtig glücklich?
Ja, richtig rundum glücklich.
Gut, sage ich, selbst, wenn Sie trotzdem Ärger mit einer heimlichen Geliebten haben sollten; wir gehen mit der Überzeugung aus diesem Haus, endlich einmal einen glücklichen Menschen kennengelernt zu haben. – Meine Frau blickt mich strafend an. Immer wieder sage ich einen Satz zu viel.
Das haben Sie, sagt er freundlich. Eine Geliebte erwähnt er nicht. Auch mein Scherz wird akzeptiert, ja, er wird sogar belohnt. Wir sollen beim nächsten Mal auf unseren heutigen Besuch hinweisen, er wird sofort für ein komfortables Zimmer sorgen.
 
Nach dem Duschen fahren wir in die Stadt. Die Welt ist bunt. Vor drei Stunden standen wir an einem Erdloch, in dem die Urne meines Freundes versenkt wurde, nun haben wir einen glücklichen Menschen kennengelernt – und so etwas ist mir noch nie begegnet – und jetzt fahren wir in die brodelnde Universitätsstadt ein, in der heute ein Stadtfest gefeiert wird.
Auch dies habe ich noch nie erlebt: Viele Tausend Menschen flanieren durch die Straßen, einer sehenswerter als der andere, ununterbrochene Menschenströme.
Zunächst fallen mir natürlich die unzähligen hübschen Mädchen auf. Eigentlich sind sie jetzt, im Sommer, alle schön. Wo sind diese Schönen nur im Winter? Eingehüllt sind sie eben nur halb so schön.
 
Und dann die Menschen alle, die Typen, die Charakterköpfe, die berufsgeprägten Gesichter! Dieser da mit dem rotbraunen Indianergesicht und dem Stirnband, dieser Schmalgesichtige mit der resoluten Frau, die da mit den Eltern, die auf Besuch sind, und die nach Wohlstand aussehen; Studenten aller Arten; viele, die gar nicht wie lernbegierige Wissenschaftler aussehen, sondern eher zielbewußt und energisch, ja, vielleicht sogar hartgesotten.
Als wir über die Brücke über den kleinen Fluss gehen, hören wir dumpfe Paukenschläge in rascher Folge. Regatta-Boote nähern sich. Am Heck der Trommler, manchmal auch ein Mädchen. Sie feuern die Kanuten an, die in ihren Booten pfeilgeschwind unter der Brücke hindurchschießen.
Am Flußufer lagern neben ihren Maschinen Dutzende von schwarzledernen Bikern, darunter auch graustoppelige Senioren mit verkniffenen Gesichtern. Entweder wollen oder dürfen sie nicht in die Stadt hinein, und so lagern sie hier wie moderne Aussätzige, ohnmächtig gegenüber der tosenden Feststimmung.
 
Eine Stadt im Rausch. Ich denke, alle hier befinden sich im Rauschzustand. Ich versuche, daran zu denken, wie man nach dem Rausch am besten, wenn auch taumelnd, die Balance wiederfindet. Ich kenne genug Dinge, die mich rasch ernüchtern würden.
Nach Nudel-Essen und Sprudelwasser begleiten wir unsere Tochter zu ihrem Zimmer. Man tritt aus einem Vorgarten durch eine grünlackierte Brettertüre in dieses Zimmer mit Betonboden, Hochbett und einigen Ikea-Regalen. Ist sie hier abends oft allein?
Ja, sagt sie, sie muß ja viel lernen.



© Karl Otto Mühl - Erstveröffentlichung in den Musenblättern 2010
Redaktion: Frank Becker