Trinkergebet

von Erwin Grosche

Foto © Frank Becker
Trinkergebet
 
Was ist der Mensch ohne eine Stammkneipe?
Ein Kind ohne einen Teddy, eine Frau ohne eine Freundin, ein Arzt ohne einen Parkplatz, ein Priester ohne eine Kirche, eine Lokalrunde in einem leeren Lokal mit alkoholfreiem Bier vor lauter Lehrern.
In meiner Stammkneipe darf ich nach fünf Bier alles sagen, was ich will, weil man weiß, wie vernünftig ich nüchtern bin. Und jeder, der mich nüchtern kennt, weiß, daß alles, was danach kommt, nur besser werden kann. Es ist, als locke der Alkohol Seiten in mir hervor, die dort bleiben sollten, wo man sie mir verzeiht: in meiner Stammkneipe.
Ich hatte mal so viel getrunken, daß ich meinen Namen nicht mehr wußte, was bei der Polizeikontrolle nicht so gut ankam. Zum Glück kannte man mich noch von einer früheren Entgleisung, sonst wäre ich ganz schön aufgefallen.
„Aber Herr Nachtmeister. Ich bin doch nicht nur Schlangenlinien gefahren, weil ich betrunken bin, sondern weil ich im Radio Tango-Musik gehört habe. Verstehen Sie, Herr Nachtmeister, die Leidenschaft. Ich kann doch nachts nicht schlafen, aber wem sage ich das? Sie sitzen doch auch Nacht für Nacht in ihrem Auto rum und quatschen wildfremde Leute an.“
Ich habe beim Trinken schon Zustände erreicht, wo ein Teil von mir schon nach Hause gegangen ist, während der andere Teil noch weiter am Tresen saß und soff.
Ich habe dabei schon Zustände erlebt, wo ich in einer Nacht Freunde fürs Leben gefunden habe, von denen ich am nächsten Morgen nichts mehr wußte. Wo seid ihr hingegangen, Freunde fürs ganze Leben? Ich wäre doch mitgekommen. 
Ich habe dabei schon Zustände erlebt, wo ich mich in einer Nacht unsterblich verliebt hatte, und als wir uns am nächsten Morgen gesehen haben, wollten wir am liebsten vor Scham sterben, da war es doch wieder Helga, die ich nur mag, weil sie mich mag, obwohl ich betrunken bin.
Ich habe dabei schon Zustände erlebt, wo ich die Probleme all dieser Welt ganz klar vor Augen hatte und schließlich an der Sperrstunde scheiterte. Da fehlten mir nur knappe fünf Minuten, dann sähe es hier anders aus.
Wenn ich so nach Hause komme, dann nützt es mir nichts mehr, daß ich meine Frau liebe, dann würde sie trotzdem so tun, als würde sie mich nicht kennen, und zwar weil sie mich liebt. Ist das nicht paradox? Genauso paradox: Je besser ich mich dabei fühle, umso schlechter sehe ich aus - und dieses Wissen ist nur betrunken zu ertragen.
So wie der Müllfahrer, der durch das Herausschmeißen seiner Zigarette seinen eigenen Berufsstand sichert, so sichert sich mein Wirt durch das Herausschmeißen seiner Stammgäste seine Stammgäste. Nur der Sünder sucht Gott und nur der Nüchterne kann sich betrinken, Rausschmeißer aus dem Paradies, wer nichts wird, wird Wirt oder trinkt, bis er was geworden ist, Nihilist. Oh, dieses nüchtern werden, welch Strafe nach dem großen Glück. Und dieser schwere Kopf, der an einem herumhängt, als hätt’ man eine Krone auf, als hätte man die linke Gehirnhälfte an eine Rockband vermietet, die dort ihren Proberaum hat.
Und dann dieses Treiben durch die Städte, und alle kommen einem entgegen, als wäre man ein Geisterfahrer, und alle glotzen einen an, als wäre man gestern bei Aktenzeichen XY dabei gewesen, als gesuchter Zechpreller.
 

Kater unser
der du kommst vom Kümmel
gepeinigt durch eine Fahne
ein Scheich komme
meine Rechnung bezahle
im Himmel wie auf Erden
und such uns nicht in der Unterführung
und vergib uns unsere Erlösung
durch ein Aspirin
in Bergkamen
 
 
für Alfred Edel



© Erwin Grosche - Veröffentlichung aus "Lob der Provinz" mit freundlicher Erlaubnis