Ein Vertrag mit dem Ich

Natascha Kampusch - "3096Tage"

von Frank Becker

Titelfoto © Martin Moravek
Niemals aufgeben!

Wir wissen, aus der Kriminalgeschichte, daß es immer wieder Fälle gegeben hat, bei denen kriminell extrem perverse oder pervers persönlichkeitsgestörte Täter junge Menschen, vornehmlich Mädchen entführt, eingesperrt, mißbraucht, getötet haben, um ihre kranken Allmachtsphantasien auszuleben. Wir haben aus der Kriminologie die traurige Gewißheit, daß es auch weiterhin zu solchen unbegreiflichen Verbrechen kommen wird. Eine der schlimmsten Taten dieser Art in unserer Zeit hat von 1998 bis 2006 das bei seiner Entführung erst zehn Jahre alte Mädchen Natscha Kampusch in Österreich erdulden müssen – ihr unvorstellbarer Alptraum endete erst, als sie sich am 23. August 2006 nach dem Martyrium von 3096 kaum zu schildernden grauenhaften Tagen und Nächten aus eigener Energie durch Flucht hatte retten können.
Der Fall ging anschließend (leider) in aller gnadenlosen Breite durch die nach Sensationen geifernde Boulevardpresse (die sich bis heute ohne jeden Verstand nicht scheut, ihr Foto und das des Verbrechers auf einer Seite zusammenzumontieren) – und auch vor ihr hat sich die mittlerweile 22-jährige junge Frau schützen müssen. Die in mehr als acht Jahren unter den denkbar schlimmsten äußeren Umständen entwickelte eigene Kraft hat ihr auch dabei geholfen.
 
Natscha Kampusch legt vier Jahre nach ihrer Befreiung, nach dem Ende von Erniedrigung, Gehirnwäsche, Folter und Versklavung ihre Erinnerungen an die mehr als acht Jahre Gefangenschaft, lebendig begraben in einem muffigen Kellerverlies und täglich der aufbrausenden Gewalt eines skrupellosen Verbrechers ausgesetzt, vor. Es ist eine Aufarbeitung, die spürbar sensibel von zwei Co-Autorinnen (Heike Gronemeier und Corinna Milborn) begleitet worden ist. Eine Aufarbeitung, notabene, ein posttraumatischer Versuch, uns, die wir das Privileg haben und hatten, stets in Freiheit und Würde zu leben, zu vermitteln, was ihr widerfuhr und was ihr die Kraft gegeben hat, diese unendlich scheinende Zeit zu überleben. Wir können uns auch nicht annähernd vorstellen, was dieses Kind, das in der erbärmlichen Gefangenschaft zu einer jungen Frau heranwuchs, hat erdulden müssen. Sie spart in ihrem Buch sexuelle Übergriffe und Details der meisten ihrer verzweifelten Selbsttötungsversuche bewußt aus, um sich zu schützen. Das ist richtig so. Daß ihr der „Täter“, so nennt sie ihn überwiegend (und auch ich werden den völlig bedeutungslosen Namen dieses Scheusals in meiner Buchbesprechung und im Zusammenhang mit ihrem nicht nennen), die Kindheit und Jugend genommen hat, ist eine Sache. Daß er sie zudem planvoll über acht Jahre brutal und ohne Maß gefoltert und erniedrigt hat, die andere. Dem muß nicht ohne Not noch Stoff für die oben erwähnte Sensationspresse hinzugefügt werden. Der Täter hat sich der Verhaftung durch seinen Selbstmord entzogen - ein letzte feige Tat. Gut für das Opfer, das seinem Peiniger nun nicht auch noch in einem quälenden Strafprozeß gegenübersitzen muß und dabei möglicherweise von Schmierenanwälten in den Schmutz gezogen würde.
 
Sie hat - man vergesse nicht: ein Kind! - dem ununterbrochnen Druck, der psychischen und physischen Grausamkeit des Täters, seinen perfiden Torturen, seiner Willkür, den fürchterlichen Verletzungen und Schmerzen, die er ihr zugefügt hat, der gezielten Unterernährung und der aus all diesem zusammen entstandenen jahrelang lähmenden Unfähigkeit sich zu befreien nur eins entgegensetzen können: den eigenen Willen. Sie baute sich hinter den undurchdringlichen Beton- und Stahltüren ihres Verlieses, einem feucht-schimmeligen unterirdischen Sarkophag mit ständig ratterndem Ventilator, in dem sie oft tagelang bei Dunkelheit und ohne Essen eingeschlossen, hilflos zugrunde gegangen wäre, wenn draußen dem Täter etwas zugestoßen wäre, gedankliche Rettungsinseln. Sie übte sich im Lesen, hielt die Erinnerung an ihre Eltern durch virtuelle Gespräche und Briefe aufrecht, versuchte sich mit dem Täter, der sich zu ihrem Schöpfer und König aufschwang und von dem ihr Leben abhing, zu arrangieren. Sie wehrt sich heute gegen die Wertung dessen als das „Stockholm-Syndrom“, weil sie aus eigenem Entschluß diesen Weg ging. Vor allem aber schloß Natascha Kampusch einen Vertrag mit ihrem Ich: Niemals und unter keinen Umständen aufgeben!
 
Das Buch, nach dessen Lektüre ich - wiewohl vorbereitet - nächtelang schlaflos blieb, schneidet, wenn auch nicht anklagend, auch das eklatante Versagen der österreichischen Polizei an, die den beiden entscheidenden Hinweisen, aufgrund derer das Mädchen schon nach kurzer Zeit von seinen Qualen hätte befreit werden können, nicht nachgegangen ist. Nicht nur wurde die wichtigste Meldung eines aufmerksamen Beamten der Ortspolizei 1998 verschlampt, acht Jahre später wurde, als Wahlen anstanden, die Panne von der Politik gezielt vertuscht und wurden Ermittler mit einem Maulkorb versehen. Auch geht sie mit jenen ins Gericht, die ihr heute irgendwelche billigen Motive unterstellen, wenn sie Interviews gibt, an der Öffentlichkeit teilnimmt oder publiziert. Diese junge Frau hat jedes, aber auch jedes Recht der Welt, ihr Leben zurückzugewinnen, es zu leben, sich zu äußern, Geld mit der Aufarbeitung der durchlittenen Qualen zu verdienen soviel sie möchte, und vor allen Dingen hat sie das Recht, über all das selbst zu bestimmen. Wer die Stirn hat, daran Kritik zu üben, lese dieses Buch. Er wird beschämt verstummen.
 
Natascha Kampusch, eine jetzt äußerlich stark wirkende junge Frau, versucht ein normales Leben zu führen, nachzuholen, was nachzuholen geht. Macht es ihr möglich – laßt sie in Ruhe.
 
Natascha Kampusch - 3096 Tage
© 2010 List Verlag
288 Seiten, Gebunden m. Schutzumschlag
€ 19,95 [D], € 20,60 [A], sFr 33,90 - ISBN-10: 3471350403
 
Am 15. Dezember 2010, 23.15 Uhr ist Natascha Kampusch im ZDF zu Gast bei Markus Lanz
 
Weitere Informationen unter: www.list-verlag.de  und  www.natascha-kampusch.at