„Um sehend zu begreifen“

Willi Baumeisters Skizzenbücher: Eine Entdeckung ohne Überraschung

von Andreas Steffens

© Deutscher Kunstverlag
„Um sehend zu begreifen“
 
Willi Baumeisters Skizzenbücher:
Eine Entdeckung ohne Überraschung
 
Was immer einer sein mag, zum Status des Klassikers gehört die exzessive archivalische Pietät, die die für sein Metier zuständige Geisteswissenschaft ihm widmet.
 
An ihr mangelt es dem Werk Willi Baumeisters nicht. Wenige sind so gründlich erschlossen, in Werkverzeichnissen katalogisiert und dargestellt wie seines.
 
Dennoch birgt es noch Entdeckungen.
 
Als mich Prof. Gerd Presler anläßlich der Ausstellung ‚Informel – eine Weltsprache’ in der Galerie Schlichtenmaier im November 2006 nach Skizzenbüchern meines Vaters fragte, konnte ich ihm nur antworten, daß einiges da sei, aber es gebe wohl nicht viel. Durch meine jahrelange Arbeit an den verschiedenen Werkkatalogen zu Willi Baumeisters Zeichnungen, Gemälden und Druckgraphiken hatte ich mir nicht die Zeit genommen, die Skizzenbücher anzusehen.
 
Ich nahm mir im Archiv sogleich die Schublade des Planschrankes vor und war überrascht, was ich zu sehen bekam. Die Skizzen zeigen eine Vielfalt an Themen und Techniken in Kohle, Bleistift und Kugelschreiber, eine Welt für sich wurde sichtbar, schreibt Felicitas Baumeister, die zusammen mit Ulrike Groos und Gerd Presler als Band 02 der Schriften des Archiv Baumeister im Kunstmuseum Stuttgart das Werkverzeichnis der auf diese Art spät noch entdeckten Skizzenbücher im Deutschen Kunstverlag herausgab.
 
Daß es sich dabei um keine die etablierte Sicht auf das einflußreichste malerische Werk der frühen Nachkriegszeit umstürzende Überraschungen handelt, überrascht nicht, wenn man es auch bedauern mag, im Nachlaß des Theoretikers des „Unbekannten“ in der Kunst selbst durchgängig auf Vertrautes zu treffen.
 
So leistet der Band weniger einen Beitrag zur Vergegenwärtigung der ästhetischen Ursprungsschicht dieses maßgebenden Werkes, als zu dessen erweiterter historischer Dokumentation.
 
Dem entspricht, daß Gerd Presler seine kurze Einleitung mit ausführlichem Zitat eines Klassikers seines Metiers bestreitet. Werner Haftmann fand seinerzeit an Baumeister besonders zu loben, daß dieser in seiner Arbeit auf die Quellgründe des Menschheitsgedächtnisses, auf uralte, verschüttete Formen stoße, sie aus der Latenz hebe und sie unserem lebendigen Empfindungsbestand hinzu füge.
 
Der späten Edition eine fünfzig Jahre alte ‚Vergegenwärtigung’ unreflektiert und unkommentiert vorauszuschicken, verweist auf ein weniger gebrochenes, als kaum vorhandenes Verhältnis der Kunsthistorie zur eigenen Zeit. Das noch einmal aufgewärmte weltanschaulich verstiegene Pathos von einst trug schon damals nichts zur Erkenntnis bei. Sollte die Kunsthistorie heute so unverbindlich betriebseifrig wie damals bildungsselig aufs Bedenken ihrer Phänomene als Teil ihrer Zeit verzichten? Ihr eine Idee ihrer Rolle in der intellektuellen Zeitgenossenschaft der elektronischen Bildzivilisation fehlen? Zu gewinnen wäre sie aus der Spannung, in der ein historisches Werk wie Baumeisters mit dessen Ausschnitt ‚klassischer’ Skizzenkunst zur Zeit ihrer dokumentarischen Veröffentlichung unweigerlich steht.
 
Das Kreative, Spielerische, Experimentierfreudige, das Felicitas Baumeister in den spät entdeckten Skizzen ihres Vaters ausmacht, findet sich in ihrer Katalogpräsentation vor allem in deren Gestaltung wieder.
 
Haftmans Einschätzung übernehmend, steht die Präsentation unter der Maxime, daß die Skizze als Zeichnung eigenen Rang besitze, der über Vorläuferschaft und Entwurf für die Gemälde hinausreiche – um dann genau diese Korrespondenz als erstes herauszustellen.
 
Besonderen Wert besitzt dagegen die Transskription der Notizen, die Baumeister auf vielen seiner Zeichnungen und Skizzenblätter machte. Sie zeigen Gedankengänge, Bezüge und Erprobungen in ihrer zeitlichen Reihenfolge, was für die Geschichte des intellektuellen Malers, der seine Arbeit bedachte und aus ihr eine eigene Künstlerästhetik der Malerei entwickelte, wichtig ist. Hier könnte mancher Aufschluß zu finden sein. Ästhetisch besonders beeindruckend sind diese Kombinationen davon abgesehen in ihrer Durchdringung der doppelten skripturalen Geste des denkend Zeichnenden, des zeichnend Denkenden.
 
Daß darin durchaus Anregungen für ein zeitgenössisches ästhetisches Nachdenken jenseits oberflächlicher ‚Aktualisierung’ liegen, zeigt eine Notiz aus PB 16 (1948/1952): Das Dargebotene in diesen Sparten – sc. den damaligen ‚Massenmedien’ Film, Fotografie, Illustrierte – wird so deutlich und geschmeidig platt dem Verbraucher serviert, daß dieser keine Leistung, keine Aktivitäten aufzubringen hat, um sehend zu begreifen.
 
Sehend begreifen – wenn es eine gegenwartsbedeutsame Aufgabe der Kunsthistorie gibt, dann liegt sie genau darin, dem Zeitgenossen ein unerschöpfliches Reservoir an Dokumenten eines sehenden Begreifens, eines begreifenden Sehens, dem der Stuttgarter Kollege Max Bense später eine ästhetische Theorie widmete, bereit zu stellen, das seiner sinnlichen Verarmung durch die Zivilisation des elektronischen Simulationsbildes entgegen wirken kann. Die zeitgenössische visuelle Idiotie hat eine lange Vorgeschichte.
 
Den Maler Baumeister bestätigen seine Skizzenbücher in genauer Entsprechung. Seine Malerei ist so ‚flach’ wie er nicht malerisch, sondern grafisch dachte: nicht aus der zu entfaltenden Farbe, sondern aus der zu strukturierenden Fläche heraus. Dazu war der Skizzenblock, das Zeichenpapier der Miniaturerprobungsraum. Die entdeckende, suchende, erprobende Hand tastet nach der Raumgestaltung des Gemäldes, die die Farben beglaubigen werden.
 
Darin wurde Baumeister als Disziplinator der kandinskyschen grafischen Beliebigkeiten eines koloristischen Temperamentes, das seine Hausmacherästhetik selbst mit Illustrationen versah, zum eigentlichen Impulsgeber einer freien Abstraktion, die die Lizenzen eines entgrenzten Impressionismus zu neuer Formfindung führte.
 
Der Haupttext, die ausführlichen Erinnerungen der Tochter an die Zeit, in denen die Skizzenbücher entstanden, enttäuscht. Nicht, weil er keine wesentlichen Informationen enthält, die über Bekanntes hinausgingen; um verehrungsvolle Nähe ebenso wie um wissenschaftliche Distanz bemüht, mißlingt die stilistische Ausbalancierung, und was persönlicher Bericht sein sollte, erstirbt in der Blutleere einer im Ton verständnisloser Begeisterung eines Schulaufsatzes vorgetragenen Chronik.
 
Die Begeisterung, die dort nur gewollt ist, weckt jedoch die ungeheure editorische Leistung des Bandes, die an Mustergültigkeit kaum zu übertreffen ist. Weit davon entfernt, eine bloße archivalische Pflichtarbeit zu sein, deren Unlust sich aufs Ergebnis überträgt, dem man ansieht, daß es auf einem Regal verschwinden, und in Jahrzehnten nur ein paar mal von Examenskandidaten durchgeblättert werden wird, gehört das Buch als ein Dokument höchsten Standards, was Erschließung, Aufbereitung, Darstellung und Präsentation des Materials betrifft, in jeden kunsthistorischen Grundkurs und Semesterapparat zur Einführung in Methoden und Formenlehre.
 
Die Gestaltung des Ganzen zu einem Buch hat eines der schönsten der letzten Zeit hervorgebracht.


© 2010 Andreas Steffens
 
 
Gerd Presler und Felicitas Baumeister - "Willi Baumeister. Werkverzeichnis der Skizzenbücher / Catalogue Raisonné of the Sketch Books"
Schriften des Archiv Baumeister im Kunstmuseum Stuttgart, Band 2
Herausgegeben von Felicitas Baumeister und Ulrike Groos
© 2009 Deutscher Kunstverlag
Willi Baumeister (1989–1955) hinterließ insgesamt 47 Skizzenbücher mit 490 Skizzen. Der Katalog präsentiert sämtliche Skizzen. In zwei Textbeiträgen analysieren Prof. Dr. Dr. Gerd Presler und Felicitas Baumeister Zusammenhänge zu späteren Arbeiten und stellen diese in einen biografischen Kontext.
Text: Deutsch und Englisch
29,90 € [D] | 30,80 € [A] | 43,90 SFR [CH]
 
Weitere Informationen unter: www.deutscherkunstverlag.de